Zuversicht. Meine unmaßgebliche Zeitenwende

Ernst Köhler

Man kann sich fragen, wieso wir uns alle so sicher waren, dass bei den letzten Wahlen in Frankreich der Rassemblement National die stärkste Kraft wird. Oder wieso wir im Grunde unserer Seele bis gestern davon ausgehen zu müssen glaubten, dass Donald Trump der nächste Präsident der Vereinigten Staaten wird. Oder wieso vielen speziell in Deutschland, allen voran unseren alten Generälen, Putin als übermächtig und letztlich unbesiegbar erscheint– ein politisches Regime, das der weltbekannte amerikanische Osteuropahistoriker Timothy Snyder als „brüchig“ bezeichnet. Was ist das für eine Schlagseite? Ich stelle mir da einen gebildeten, politisch hellwachen Mitbürger vor, der gewissermaßen seine „Ehre“, seine Unbestechlichkeit, seine Integrität als denkender Mensch im Pessimismus, in der Hoffnungslosigkeit sieht. Die Demokratien fallen in seiner Wahrnehmung von der Weltlage gleich reihenweise, vorneweg die historisch allerersten, die klassischen.

Mein depressiver deutscher Bildungsbürger ist in dieser Verallgemeinerung nur ein Konstrukt, ein möglicherweise ziemlich schräg gebauter Idealtypus. Bitte, aber begegnet er einem nicht auch leibhaftig oft genug? Es wäre ein Gesprächspartner, dem man schlecht vorwerfen kann, er sei nicht auf der Höhe der Zeitenwende. Er hat sich eher von ihr erdrücken lassen. Dem Prototyp von Staatsbürger in der alten westdeutschen „Nachkriegsgesellschaft“ und auch noch in der Merkel-Ära, für die ihre eigenen, fragilen Existenzbedingungen kein Thema waren, entspricht er jedenfalls kaum mehr. (Vgl. Armin Nassehi, Kritik der großen Geste, 2024, Kap. 2: Multiple Krisen)

Der Krieg

Müssen wir nicht wieder lernen zu fragen? Von trügerischen Gewissheiten zu Fragen zurückzufinden? Eine der heute am meisten irritierenden wäre: Wie steht die breite Masse der russischen Gesellschaft zu dem Vernichtungskrieg Russlands gegen ein Nachbarland? Wenn wir diese Frage ernst meinen und sie nicht in unserem Kämmerlein schon längst beantwortet haben, kommt dabei vorerst nur eine Nachdenklichkeit gegen das von den Machthabern des Landes gewollte und erzwungene Schweigen heraus. Die Frage offen zu halten, statt sie in einem resignierenden Kurzschluss zu erledigen, bleibt gerade deswegen unverzichtbar. Sie ist das Minimum unserer Redlichkeit, unserer Eigenständigkeit: Wir nehmen unser Bild von Russland nicht von den Lügnern der Autokratie entgegen.

Als die jetzt aus dem Gefängnis befreiten und ausgetauschten russischen Oppositionellen öffentlich davon sprechen, man müsse für Russland zwischen der Regierung und dem Volk unterscheiden, gibt es scharfen Protest aus der Ukraine und auch aus Litauen. Es sei ja nicht Putin persönlich, der die Gräuel in der Ukraine verübt habe und verübe.

Unterschreiben kann auch ich das nicht. Die Russen als kollektiver Putin? Es ist bekannt, ausgewiesene Russlandkenner haben uns erklärt, wer diese Männer sind: aus welchen Regionen, aus welchen zivilisatorischen und sozialen Verhältnissen sie kommen; aus was für Dörfern und Familien und Gefängnissen; welche Rolle die Rechtlosigkeit, die nackte physische Gewalt, die unangefochtene männliche Vorherrschaft von Kindheit an in ihrem Alltag gespielt hat. Wie sie in die Armee gekommen sind, und was das Militär und seine Offiziere mit ihnen machen. Das alles nicht, um aus der Verkommenheit ein Leiden zu machen, aus den Killern Opfer. Jeder einzelne von ihnen trägt persönlich die Verantwortung für das, was er tut. Sie müssen alle einmal vor Gericht gestellt werden. Sondern um uns auf die Gesellschaft hinzuweisen, die sie hervorgebracht hat. Es bleibt ein erschreckender, abgründiger, aber auch spezifischer Kontext.

Die Polemik gegen die befreiten russischen Widerstandskämpfer war selber ein „Kriegsprodukt“, so spontan eine Freundin mit Kontakt zu Leuten aus der Ukraine in unserer Stadt. Bitter auch für uns, weil wir in Deutschland den Stimmen: den Intellektuellen, Publizisten, Gelehrten, Denkern und Schriftstellern aus der Ukraine seit 2014 – nicht erst seit 2022 – so ungefähr alles verdanken, war wir über dieses Land „im Nebel des Krieges“ überhaupt wissen und zu sagen haben. Sie sind die grundlegende Quelle unserer Aufklärung, unserer Orientierung, unserer Anteilnahme. Wer auch sonst? Unsere eigenen Osteuropahistoriker kamen ja dann – mit wenigen Ausnahmen – erst an zweiter Stelle. Sie mussten sich erst einmal lösen, losreißen vom primären Forschungsinteresse der deutschen Geschichtswissenschaft an Russland, bzw. an der russischen Vormacht in der Sowjetunion. (Vgl. Karl Schlögel, Entscheidung in Kiew, 2015).

Aber auch ein Freiheitskampf von der europäischen und globalen Bedeutung des ukrainischen bringt seine Verhärtungen und kulturellen Deformationen hervor.

Wäre es gegenwärtig so nicht überhaupt um uns bestellt: kein Gesamtbild; Russland eine terra incognita – auch für Leute, die an sich Russisch sprechen, in Russland studiert, das Land früher immer wieder besucht und sogar dort auch über Jahre gearbeitet haben. Immer nur Ausschnitte, Teilaspekte; bestenfalls eine tastende Kombinatorik, ungesicherte Schlussfolgerungen. Wie können aber die unvorstellbar vielen toten und verletzten russischen Soldaten – die Zahlen gehen in die Hunderttausende und anscheinend schon auf eine Million hoch – vom russischen Volk widerstandslos hingenommen werden? Was für ein „Nationalismus“, was für ein Patriotismus wäre das, der diesen unermesslichen, katastrophalen Verlust von nächsten Angehörigen vor allem in der riesigen Provinz des Landes einfach schluckt, stoisch verdaut und immer nur weiter mit der gleichen Ideologie und der gleichen Aggressivität beantwortet?

Es gibt ihn wohlmöglich gar nicht. Oder nicht mehr: in diesem sinnlosen, aus der Zeit gefallenen und hinter seinen zunächst verkündeten Zielen auch weit zurückbleibenden Krieg. Was die Welt sieht, ist ein Vernichtungswillen gegen Zivilisten als Ersatz für Erfolg, Triumph und Sieg; Menschenverachtung als Furor, Selbstbetrug und Kompensation für das militärische Misslingen. Sehen die Russen selbst es nicht?

In NS-Deutschland, unserer eigentlichen Erfahrungsbasis für die Entwicklungen in Putin-Russland, gab es diesen realitätsblinden, unbeirrbaren Chauvinismus in der breiten Bevölkerung nicht. Weder 1939 noch gar seit 1941. Der „Fanatismus“ war hier nur eine Sprache, eine Sprachregelung des Herrschaftssystems und seiner Eliten. (Victor Klemperer, LTI. Die Sprache des Dritten Reiches, zuerst 1947). Wer wie wir zeitlebens in einer liberalen, rechtstaatlich eingehegten Demokratie gelebt hat, sollte sich besser zurückhalten mit der moralischen Forderung nach Massenprotest und offenem Widerstand. Und mit der Verachtung, so er ausbleibt. Wir selbst sind nie getestet worden. Von unseren Eltern oder Großeltern wissen wir aber, dass in Deutschland – zumindest in der Endphase des Zweiten Weltkrieges – die allgemeine Überlebensstrategie war: „Nur nicht auffallen“. Wo auch immer der individuelle Mensch politisch stand und was immer er von der Staatsmacht und ihrer Geopolitik hielt. Wie heute in Russland so war damals in Deutschland die Denunziation allgegenwärtig.

(Auf ganz andere Weise altvertraut kommt einem auch vor, was über das aktuelle Verhalten der akademischen und kulturellen Elite in Russland zu uns gelangt – etwa mit den Berichten und Reportagen einer Journalistin wie Kerstin Holm in der FAZ. Noch bei absurdester, bodenlosester Strafverfolgung einzelner ungebrochener Künstler lässt sich in diesen Kreisen ein breites, schmieriges Spektrum von Opportunismus und Unterwerfungsgesten beobachten. Für das man nicht einmal auf die Universitäten, Forschungszentren, kulturellen Institutionen Hitler-Deutschlands, bekanntlich von Anfang bis Ende Hochburgen des Nationalsozialismus, zurückzugreifen braucht. Der eine oder andere von diesen geschmeidigen, weltläufigen russischen Kreativen und Hochqualifizierten spricht exakt wie Sahra Wagenknecht.)

Der andere Krieg

Der Krieg nach dem einzigartigen Pogrom der Hamas gegen israelische Zivilisten am 7.Oktober 2023 zerreißt einen. Ganz anders als der Ukrainekrieg, der nur die deutsche Gesellschaft im Großen spaltet. In zahllosen privaten Gesprächen im Freundeskreis ist mir überdeutlich geworden: Die Ukraine muss siegen. Mit allen Konsequenzen, die sich aus dieser Position ergeben. Die eindeutige Distanzierung von der Ukraine-Politik der gegenwärtigen deutschen Regierung und des Kanzlers Olaf Scholz inbegriffen. Der Krieg im Nahen Osten muss hingegen sofort aufhören.

Auch hier gibt es für mich wieder einen nicht zur Disposition stehenden politischen Rahmen: das Existenzrecht Israels. Angesichts der eklatanten, weltweiten Verwahrlosung der politischen Öffentlichkeit in der „Palästinenserfrage“, die das terroristische Massaker herunterspielt oder sogar einen Akt der Befreiung aus ihm macht, ist das ausdrücklich klarzustellen. Nichts versteht sich da mehr von selbst. Auch nicht in Deutschland.

Wenn man an einem dermaßen komplexen Thema nicht dran bleibt – wie ich schon seit dem Scheitern der Osloer Friedensverhandlungen nicht mehr, versifft unweigerlich vieles, was man an historischem Wissen und politischem Verständnis einmal für sich gesichert zu haben glaubte. Nicht so die Grundhaltung. Sie bedeutet heute – und hätte es schon die letzten drei Jahrzehnte bedeutet, wo war ich eigentlich die ganze Zeit? – : Sprechen für Israel und gegen seine Regierung. Gegen eine Regierung, die frei gewählt ist, was es bekanntlich sonst in der gesamten Region nirgends gibt. Aber die mit ihrer perspektivlosen, auf Dauer gestellten, auf bloßer militärischer und polizeilicher Gewalt basierenden Besatzungspolitik den eigenen Staat, das eigene Land unaufhaltsam ruiniert. Und die mit ihren faschistischen Ministern Israel in den Zerfall und Untergang führen könnte, wenn sie nicht sehr bald von der Macht entfernt wird.

Der Leitspruch der deutschen Politik, die Sicherheit Israels sei deutsche „Staatsräson“, kann dabei allerdings kein Kompass sein. Man hält sich da am besten an Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt/M., hier wie in Israel zu Hause; Abgesehen davon, dass der Begriff der „Staatsräson“ aus der vordemokratischen europäischen Moderne stamme, stehe die Maxime auch nicht für die Freundschaft der Deutschen mit Israel. Freunde habe Israel in Deutschland nur wenige. Sie würden in Krisen- und Notsituationen wie der gegenwärtigen auch Tacheles reden. Und, so ließe sich hinzufügen, nicht zu einer Diplomatie der „politischen Korrektheit“, der Befangenheit, des rituellen Gedenkens an den Holocaust Zuflucht suchen.

Es ist nun aber keineswegs so, dass die politische Öffentlichkeit in Israel auf solche Stellungnahmen aus Deutschland oder überhaupt aus dem demokratischen Ausland dringend angewiesen wäre. Es ist umgekehrt: in jedem reellen Gedankenaustausch über die Zukunft Israels wären wir die Nehmenden, die politisch wie kulturell Profitierenden. Es gibt in Israel seit jeher ein Niveau und ein Ausmaß von Meinungsfreiheit, wie wir es in Deutschland nicht kennen, nie gekannt haben und vermutlich auch gar nicht verkraften würden. Diese Erscheinungsform des Citoyen hat bei uns Seltenheitswert. Wir können froh sein, wenn die Stimmen dieser in Israel nicht ungewöhnlichen politischen Zivilcourage zu uns gelangen. Wie dieser Tage die von Mordechai Kremnitzer, em. Professor für Rechtwissenschaft an der Hebräischen Universität in Jerusalem:

Die Besatzung ist der Hintergrund, hinzu kommen die von der Hamas und ihren Anhängern verübten Gräueltaten sowie die Äußerungen von Politikern und anderen Meinungsträgern, die nicht mehr unterscheiden zwischen Terroristen und Zivilisten, sondern nur noch von Bestien reden. Diese Verrohung hat einen zerstörerischen Einfluss auf Gesellschaft und Politik, aber auch auf das Verhalten von Soldaten, die etwa palästinensische Zivilisten in Gaza als menschliche Schutzschilde einsetzen…Für Israelis und Palästinenser geht es um Leben oder Tod. Die Existenz Israels ist bedroht. Die größte Gefahr kommt von innen, von den Feinden von Frieden und Demokratie. Diese Kräfte zu unterstützen ist kein Ausdruck von Freundschaft mit Israel, im Gegenteil. Die Freunde Israels sind aufgerufen, die liberalen Demokraten in Israel gegen die friedens- und demokratiefeindliche Politik der israelischen Regierung zu unterstützen. Dieser Appell ist ein SOS-Ruf. 1

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