Linker Antisemitismus

Andreas Meyer

Nach dem 7. Oktober – Von der Irritation zur Konsternation

„Wenn ich Antisemit bin, kann ich kein Linker sein“, behauptete der Schriftsteller Gerhard Zwerenz vor 50 Jahren (1976). Klingt gut und bis heute scheint diese Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung Bestand zu haben.

Von der traditionellen alten Linken, der sich Zwerenz zugehörig gefühlt hat, war es ein langer Weg zu den „progressiven“ Milieus, in denen sich unterschiedlichste Gruppierungen heute als Linke verstehen: Antiimperialistisch, antikapitalistisch, anti/postkolonialistisch ist das Geläuft, auf dem sie sich inzwischen bewegen, und für sie ist es auch keine Frage, ob ein Linker ein Antisemit sein kann. Als Student mit Anfang 20 musste ich mich zum ersten Mal konkret mit dem Thema Antisemitismus auseinandersetzen. Anders als im Schulunterricht, anders auch als in den Seminaren an der Universität; es war eine Haltung gefragt, eine Positionierung.

Der Müll, die Stadt und der Tod“ von Rainer Werner Fassbinder sollte in Frankfurt uraufgeführt werden. Doch die Aufführung kam damals auf Grund massiver Proteste nicht zustande. Kritisiert wurde vor allem, dass ein Immobilienspekulant im Fokus steht, in dem sich, wenn man wollte, unschwer Ignaz Bubis, der damalige Vorsitzende der Frankfurter jüdischen Gemeinde und des Zentralrates der Juden in Deutschland, erkennen ließ. Die Diskussionen innerhalb der Linken zeigten auch damals schon, dass sie vor antisemitischen Klischees nicht gefeit war. Brisanz gewann das Stück, bzw. die Aufführung vor allem durch den gesellschaftlichen Kontext: Es war die Zeit der Häuserkämpfe und Hausbesetzungen in Frankfurt. Hervorgetan hatten sich dabei vor allem die sogenannten Spontis (mit Joschka Fischers „Putzkolonne“ u.a.). Für viele von uns stellte sich damals die Frage Aufführung, ja oder nein. Es galt zu klären: wann ist etwas antisemitisch, auf welcher Grundlage, mit welchen Kriterien können wir eine Antwort finden, eine begründete! und dann eine Entscheidung zu treffen, mit der wir Position beziehen. Interessant ist aus der Rückschau, wie auch damals gesellschaftliche Zustände die Resilienz gegenüber antisemitischen Vorstellungen fluktuieren ließen: Der Immobilienspekulant musste ein Jude sein und bei vielen griffen die antikapitalistischen Reflexe wiedervon Ignaz Bubis zum Bankhaus Rothschild war die Assoziationskette nicht sehr schwer herzustellen. Die antikapitalistische Einstellung stellte das „Jüdische“ schnell wieder in ein diffuseres Licht und die antiisraelische Positionierung der Linken, die spätestens mit dem Sechs-Tage-Krieg (1967) Auftrieb gewonnen hatte, spielte sicher auch eine Rolle.

Bemerkenswert dabei ist, dass große Teile der Linken auch heute in ihrer Haltung die eigene Position gegenüber den Juden bzw. Israel vom sogenannten Kontext abhängig machen. Und dabei muss man dann nur sophistisch, oder doch heuchlerisch? genug sein, um ohne Skrupel mit dem Antisemitismus zurechtzukommen.

Wie die SZ berichtete, hat Bernard-Henry Lévy (französischer Autor und Publizist) vor kurzem auf eine dieser unglaublichen Spitzfindigkeiten zur Legitimierung des Antisemitismus (diese gilt allerdings nur für Linke!) aufmerksam gemacht. Er verweist auf eine interessante Strategie, mit der die Linke versucht, sich aus der Antisemitismusfalle zu schleichen. Unterschieden wird demnach zwischen kontextuellem Antisemitismus (im Zusammenhang mit dem Krieg in Gaza, entschuldbar) und ontologischen Antisemitismus (in der langen Geschichte verankert, unverzeihlich). Mit dieser selbstgefälligen Strategie lässt man die Antisemitismuskritik an sich abperlen. Jetzt kann jeder (Linke?) seinen Antisemitismus, mit welchem Kontext auch immer, exkulpieren. Nur ein, wenn auch anschauliches und trauriges Beispiel hierfür aus dem Jahr 1976 ist die Entführung eines Flugzeuges nach Entebbe durch palästinensische und deutsche Terroristen im Jahr 1976. Dabei wurden die jüdischen und die nichtjüdischen Passagiere voneinander getrennt. Die Segregation vorgenommen hat einer der deutschen Terroristen, Wilfried Böse, worauf ein Betroffener, ein Holocaustüberlebender, ihm erklärte, er trete die Nachfolge seiner Nazieltern an. „Ich bin Anti-Nazi – und Idealist“, so Böse.

Der Kontext war hier für die jüdischen Passagiere sicher „bedauerlich“. Und heute – heute ist jeder Anti-Nazi, Antifaschist, also links und kann also, nach Gerhard Zwerenz, gar kein Antisemit sein.

Dass diese Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung meilenweit entfernt ist von der Wirklichkeit und den politischen Zusammenhängen (was noch zu zeigen sein wird), ist dann auch nicht mehr Gegenstand eigenen Reflektierens. Und dass diese Eigenwahrnehmung irgendwann einmal eine Rolle spielen könnte, war lange nicht absehbar. Mit dem 7. Oktober ist das schlagartig anders geworden. Ein bis dahin nicht vorstellbares Massaker, durchgeführt von der palästinensischen Hamas, mit einem an Grausamkeit nicht zu überbietenden Furor, war der schlimmste Vernichtungsfeldzug gegen eine jüdische Zivilbevölkerung seit der Shoah – das Ziel: junge Leute bei einem Musikfestival, Männer, Frauen, Alte und Kinder in den Kibbuzim. Die sadistischen, verstörend grausamen Attacken waren dazu geeignet, uns – wer ist uns? den Boden unter den Füßen wegzuziehen!

Dies musste die Aufrechten hierzulande zum Handeln bewegen: demonstrieren, sich solidarisieren, organisieren – was? Irgendwas! Aber da war nichts: Ruhe, Stille, die Bewegung(en) bewegten sich nicht. Ich war irritiert, ungläubig wartete ich – vielleicht musste man sich ja noch sammeln irgendwie, aber das schmerzende Schweigen, die Friedhofsruhe, die blieb, es blieb, könnte man sagen, totenstill. Das Totalversagen derer, die doch immer auf die Straße gingen, wenn es drauf ankam, machte mich sprachlos.

Für die sonst immer Bewegten war der Anlass, aktiv zu werden und ihrem Zorn und ihrem Entsetzen Ausdruck zu verleihen, erst gegeben, als Israel erklärte, die Hamas vernichten zu wollen und Militär im Gazastreifen einsetzte. Der Zorn richtete sich nicht gegen den Vernichtungsterror der Hamas, sondern gegen Israel.

Die Fassungslosigkeit ob dieses deprimierenden Verhaltens war und ist für mich schwer zu beschreiben. „Die Täter waren mit einem Schlag unschuldig an den Pogromen an jüdischem Leben – die toten Juden waren durch ihre Zugehörigkeit zu Israel für ihren eigenen Tod verantwortlich“, so die frz.-israelische Soziologin Eva Illouz.

Inzwischen sind mehrere Monate vergangen und es lassen sich nun auch Fragen stellen – und beantworten! Die Zeitenwende, die mit dem 7. Oktober angebrochen ist, die Zäsur, die ein mit rasender Geschwindigkeit sich ausbreitender Antisemitismus bis in weite Teile des öffentlichen Lebens hinein hervorgerufen hat, die Voraussetzungen, welche notwendig waren, um zu diesen besorgniserregenden Veränderungen zu kommen, all dies ist noch nicht zu Ende erklärt.

Wie reagiert ein großer Teil der neuen Linken? Wie rechtfertigt sie ihr Handeln? Was sind die Ursachen, welche gesellschaftlichen Veränderungen führen zu dieser neuen Positionierung unterschiedlichster Gruppen, die sich als links verstehen?

Der linke Antisemitismus fällt nicht vom Himmel

Man sollte nicht den Fehler machen und einfach einen Bogen schlagen, mit dem durch die letzten Jahrzehnte hindurch eine konsistente Linie innerhalb der Linken zu sehen wäre mit einem unveränderten Verhältnis zum Antisemitismus. Selbstverständlich ist auch nicht von der Linken als Ganzes die Rede. Und genauso wenig sollte man vergessen, dass die traditionelle (old school) Linke ohne rassistischen Antisemitismus auskommt und deswegen auch nicht mit rechtsextremen oder muslimischen Antisemiten, für die der Vernichtungswille gegenüber Juden in der Regel eine entscheidende Rolle spielt, in einen Topf geworfen werden kann.

Bemerkenswert ist jedoch, wie in den linken Milieus der Antisemitismus nicht statisch geblieben ist. Zum einen wird er den jeweiligen ideologischen Konstrukten angepasst, zum anderen sind es die Veränderungen in der Gesellschaft, neue frames und Narrative, mit denen neue Positionierungen legitimiert werden sollen und können.

Anfang des 20. Jahrhunderts war es Lenin; seine Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ war durchsetzt mit antisemitischen Stereotypen (Finanzjudentum etc.). Stalin ließ seiner Judenfeindlichkeit während der großen Säuberungen freien Lauf. In vielen der Massenprozesse gehörten die Vorwürfe einer jüdisch-trotzkistischen Verschwörung zum Standardrepertoire. Das kürzlich erschienene Buch von Olaf Kistenmacher „Gegen den Geist des Sozialismus. Anarchistische und kommunistische Kritik der Judenfeindschaft in der KPD zur Zeit der Weimarer Republik“ zeigt in einer überzeugenden Darstellung, dass das Problem der Linken mit dem Antisemitismus mehr ist als (lediglich) ein Phänomen aktueller „Verwirrungen“.

Das vielleicht bekannteste Beispiel für den Antisemitismus in der KPD ist Ruth Fischer, ZK-Mitglied und Wortführerin der Parteilinken. „Tretet die Juden nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie“, forderte sie 1923 und ließ den Hang zum Vernichtungsantisemitismus für einen kurzen Augenblick nun doch durchschimmern. Dessen ungeachtet blieb der Antisemitismus in erster Linie in der Kapitalismuskritik begründet. Zehn Jahre später war in der „Roten Fahne“, dem Zentralorgan der KPD, ein Artikel zu finden mit dem Titel „Hitler als Retter der reichen Juden“. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Analyse des kürzlich verstorbenen kanadischen Historikers Moishe Postone, der in „Antisemitismus und Gesellschaft“ (1979) den Antisemitismus aus den Bedingungen der sich verändernden Kapitalverhältnisse erklärt. Er sieht im modernen Antisemitismus eine ernst zu nehmende Gefahr, da dieser „eine umfassende Weltanschauung liefert, die verschiedenen Arten antikapitalistischer Unzufriedenheit scheinbar erklärt und ihnen politischen Ausdruck verleiht.“

In den Nachkriegsjahren jedoch war die Linke erst einmal proisraelisch eingestellt. Die Ablehnung der antijüdischen Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten stand im Vordergrund. Noch im Sechs-Tage-Krieg (1967) erklärte Ulrike Meinhof, sie sehe „für die europäische Linke keinen Grund, ihre Solidarität mit den Verfolgten aufzugeben, sie reicht in die Gegenwart und schließt den Staat Israel ein.“ Die Weichen aber waren schon in eine andere Richtung gestellt. Der Turnaround war mit dem Präventivschlag der israelischen Luftwaffe gegen arabische Staaten vorprogrammiert. Jetzt wurden die Narrative neu festgelegt: Israel wurde als Kolonialstaat angeprangert und galt als Speerspitze des Imperialismus im Nahen Osten.

„Schlagt die Zionisten tot – macht den Nahen Osten rot.“ Schon damals, nach 68, bekam das moralische Korsett der Linken wieder erste Risse. Götz Aly spricht von einer „emotional frierenden Generation.“ Aus ihrer Sicht jedoch ist dieser Kampf gegen Israel (moralisch) gerechtfertigt, da er als fortschrittlicher Befreiungskampf angesehen wird. Und dann ist da noch Dieter Kunzelmann, ein, wie es Wikipedia formuliert: „deutscher linksradikaler und antisemitischer Politaktivist und Kopf der terroristischen Gruppe Tupamaros Westberlin“. Mit Kunzelmann tritt eine der erbärmlichsten Figuren in die Geschichte der deutschen Linken ein. Am 9. November 1969 (die Kristallnacht jährt sich da zum 31.Mal) scheitert er mit einem Attentatsversuch auf das jüdische Gemeindehaus von Berlin – ein rostiger Draht verhinderte die Zündung. Niederträchtig auch seine bekannt gewordene Feststellung, mit der er die antisemitische Stimmung in Deutschland anheizte: „Palestina ist für die BRD und Europa das, was für die Amis Vietnam ist. Die Linken haben das noch nicht begriffen. Warum? Der Judenknax.“

Kunzelmann, immerhin in den 80-Jahren noch in Berlin Abgeordneter für die „Alternative Liste“, durchlöchert die Solidarität mit Israel kompromisslos: „Wenn wir endlich gelernt haben, die faschistische Ideologie ZIONISMUS zu begreifen, werden wir nicht mehr zögern, unseren simplen Philosemitismus zu ersetzen durch eindeutige Solidarität mit AL FATAH, die im Nahen Osten den Kampf gegen das Dritte Reich von gestern und heute und seine Folgen aufgenommen hat.“ Wo ist die Verbindung zu den Problemen von heute, könnte man fragen. Kunzelmann war, wenn man so will, der Dosenöffner, ein Stratege der Dehumanisierung, der den Antisemitismus für die Linke hoffähig gemacht hat und mit dem die linke Bewegung schließlich ein anderes Verhältnis zum Judentum bekommen hat.

Seit dem Sechs-Tage-Krieg stand Israel zunehmend in der Kritik, die vor allem von den Hochschulen aus Fahrt aufnahm. Federführend war der Sozialistische Studenten Bund (SDS), der in einer seiner zahlreichen Resolutionen erklärte, dass Israel nichts anderes sei als der Brückenkopf des US-Imperialismus im Nahen Osten.

Als 1969 der israelische Botschafter, ein ehemaliger Verfolgter der Nationalsozialisten, bei einer Universitätsveranstaltung mit Studenten diskutieren will, wird er niedergebrüllt, das Mikrofonkabel wird zerschnitten, man versucht ihn mit Parolen mundtot zu machen, die in ihrer Widerwärtigkeit nur schwer zu ertragen sind. „Shalom gleich Napalm“. Ich befürchte, viele, nicht alle, fühlten sich stark, stolz, glücklich, auf der richtigen Seite zu stehen. Die Realität wird ausgeblendet oder zurechtgeknetet. „Wissen schadet der Illusion“, wusste schon Hildegard Knef.

Daniel Cohn-Bendit war damals einer der wenigen, der das Ganze sehr gut analysiert und richtig eingeordnet hat. „… man war ja überzeugt: Wir sind die Aufrechten, die radikalen Antifaschisten und damit muss man sich gar keine Fragen stellen. Sondern wir sind das Gute, das Richtige. Wir wollen die proletarische Revolution, und die anderen sind unsere Gegner. … man forderte ein historisches Bewusstsein und bewies mit solchen Aktionen und anderen, dass man überhaupt keins hat.“ Interessanterweise passt seine Einschätzung dieses Eklats von 1969 genauso gut (bis auf die proletarische Revolution) zur aktuellen Diskussion.

Die Hybris innerhalb des studentischen Milieus ist ja bei Lichte besehen nichts gänzlich Neues. Gab es Ende der 60er-Jahre massive Proteste und Kritik an den universitären Strukturen und den Professoren – „unter den Talaren, der Muff von 1000 Jahren“ – so fehlte auch in diesem Kontext das historische Bewusstsein. Denn die vor allem kritisierte Anfälligkeit für den Antisemitismus im Nationalsozialismus gab es nicht nur auf Seiten der Professorenschaft. Sie war auch signifikant sichtbar innerhalb der Studentenschaft. Und nicht nur das, sie zieht sich wie ein roter Faden durch unsere deutsche Geschichte, angefangen beim Kaiserreich – in der Weimarer Republik und schließlich im Nationalsozialismus.

So wurde im Kaiserreich die sogenannte Antisemitismuspetition von Studenten mitorganisiert und von 18% der Studentenschaft unterschrieben. Ziel war die Einschränkung von Rechten, d.h. die Rücknahme der politischen und juristischen Gleichstellung, die für die Juden mit der Verfassung von 1871 Gültigkeit hatte. Gefordert wurden unter anderem Beschränkungen im Schulwesen. Es ging also um Sozialneid und Konkurrenzdenken bei Professoren und Studenten. Sie bestimmten, welche Professoren Vorlesungen halten dürfen, auf ihren Druck hin wurden Professoren entlassen.

Natürlich geht es nicht darum, heutige Studenten in diese Ecke zu stellen. Darauf zu verweisen, hat einen anderen Grund: Historisches Bewusstsein von anderen einzufordern ist, wie es eben Cohn-Bendit im Zusammenhang mit dem Uniskandal von 1969 formuliert hat, peinlich, wenn es einem selbst daran fehlt. Mögen die Gründe nach 1968 beim SDS andere gewesen sein, sicher waren sie in erster Linie politisch/ideologischer Natur, doch ändert dies nichts daran, dass der Antisemitismus innerhalb der Linken, d.h. vor allem an den Hochschulen, Eingang finden konnte.

1969 war es der österreichische Schriftsteller und Auschwitzüberlebende Jean Amery, der in seinem Essay „Der ehrbare Antisemitismus“ darauf hingewiesen hat: „… neu ist in der Tat die Ansiedlung des sich als Anti-Israelismus gerierenden Antisemitismus auf der Linken.“ Die Neupositionierung nach dem Sechs-Tage-Krieg war für die Linke in Deutschland zweifellos eine Zäsur und ebnete auch, den Weg zur Relativierung der Shoah auf Seiten der postkolonialen Bewegung heute. Die ideologischen „Haltungsschäden“ beförderten erste moralische Verkrüppelungen zutage, die man in der jetzigen Auseinandersetzung mit dem Gazakonflikt in ihrem ganzen Ausmaß sehen kann.

Der linke Antisemitismus nach dem 7. Oktober

ist sicherlich nicht ohne seine Verschränkungen mit der beschriebenen langen Vorgeschichte der Linken (in ihrem Verhältnis zum Antisemitismus) zu verstehen. Jedoch haben sich inzwischen, d.h. in den letzten vierzig Jahren, neue Narrative entwickelt und Wertevorstellungen verschoben, auf deren Grundlage und mit deren Verständnis die Auseinandersetzung um den Gazakonflikt ausgetragen wird. Die alte, klassische Argumentation, die im verbalen Schlagabtausch benutzt wurde, war eine ideologische – aber sie war eine!

Heute sind wir, wenn man so will, in einer kulturalistischen Debatte mit neuen frames, Begrifflichkeiten, die im universitären Bereich entwickelt worden sind, angekommen, die inzwischen eine immer größere Dynamik und Bedeutung entwickelt haben, da mit ihnen die Diskussionen für einen großen Teil vieler tagesaktuellen Ereignisse geführt werden. Da hierbei der Kampf um die Deutungshoheit und die Definition zentraler Begriffe immer wichtiger wurde, ist es sinnvoll, diese erst einmal zu untersuchen.

Welches sind die zentralen neuen Terminologien? Was bringen sie zum Ausdruck? Welchen Stellenwert haben sie für die Auseinandersetzung um den Gazakonflikt? (Inwiefern) sind sie hierfür tauglich und (inwiefern) haben sie eine Relevanz für das Aufkommen von linkem Antisemitismus?

Die Postmoderne bringt die Zeitenwende

Postmoderne war das neue Zauberwort in den 80er-Jahren: Weniger für die politischen Bewegungen als für den akademischen Betrieb. Jean Francois Lyotard, Roland Barthes und andere brachten erfrischend Neues an die Universitäten und ihre streitbar neuen Theorien fanden große Resonanz bei linken Dozenten und Studenten. Den größten Einfluss (auf uns) hatte sicherlich Michel Foucault.

Jetzt hatte man das argumentative Rüstzeug, um die alten Heiligtümer unserer (westlichen) Wissenschaft über Bord zu werfen. Wissen, Wahrheit – alles wurde dekonstruiert. Für Foucault diente das Wissen lediglich dazu, sozusagen als ein Konstrukt der Macht, das System und die ihm innewohnenden Herrschaftsstrukturen immer diffiziler und raffinierter als Unterdrückungsapparat einzusetzen. Jetzt musste alles, was uns mit der Moderne als selbstverständlich galt in unserem westlichen Koordinatensystem, auf den Prüfstand. Das Ende der Aufklärung wurde eingeläutet. Objektive Wahrheit gab es nicht mehr, ebenso verlor das Individuum seinen Status als „autonomes Subjekt“.

Auch wenn die Auflösung des Ichs schon lange vorher thematisiert wurde, Ernst Machs Dogma von der „Unrettbarkeit des Ichs“ (1883) wäre hier zu nennen und natürlich Freuds Entdeckung des Unbewussten. Nichtsdestotrotz wurde Foucault zur Ikone der Universitätsbetriebe und Dekonstruktion der neue Zauberwürfel. Und das mit Recht, da er (uns) zwang, eine andere Sicht auf die vertraute Ordnung der Dinge zu wagen. Seine Kritik, die das Verhältnis von Wissen und Macht neu justiert, steht dabei im Fokus: Wissen ist Macht und Wissen ist nie neutral, ist Teil der nicht greifbaren Strukturen, die innerhalb von Gesellschaften nötig sind, um den Erhalt von Macht zu sichern.

Dass Foucault dabei gleich die Grundlagen abendländischer westlicher Wissenschaftstraditionen, letztlich also der Aufklärung, gleich mit abgeräumt hat, brachte dann auch die Steilvorlage für viele der heutigen sich als progressiv verstehenden Aktivisten. Wenn man so will, kann man in ihm das Bindeglied zur heutigen postkolonialen Linken sehen: Der Begriff „Wahrheit“, der von Foucault eingedampft wurde, wird heute nur unter Vorbehalt akzeptiert. Heute ist die Richtigkeit einer Aussage nicht von ihrem Wahrheitsgehalt abhängig, es zählt nicht das überzeugendere, das „vernünftige“ Argument, sondern die Herkunft der Sprecher. Festzuhalten bleibt, dass die damals entwickelten Theorieversatzstücke sich nahtlos in die neuen postkolonialistischen Narrative einfügen ließen. Sie wurden so zur wesentlichen Grundfeste für einen Großteil der linken Aktivisten bis hin zum liberalen Bürgertum.

Man schuf sich neue Narrative aus den Kammern der Postmoderne, um diese zum Teil ideologisch aufzuladen und das eigene Handeln moralisch zu rechtfertigen. Nur, die Positionen Foucaults wurden schon damals, selbst wenn sie in eine Sackgasse führten, nicht kritisch hinterfragt; seine Sympathie für die Islamische Revolution Chomenis, auch ein Resultat seiner Ablehnung westlicher Vorstellungen von Demokratie und der in der westlichen Welt noch immer selbstverständlichen Fortschrittsgläubigkeit, wurde meist ignoriert. Da sympathisierte er mit Chomenis Revolution und merkte (zumindest lange Zeit) nicht, wie rigoros dort die Machtmechanismen, die Strukturen für einen hemmungslosen Repressionsapparat aufgebaut wurden – all das, was er in den Jahren vorher im Westen durchschaut und abgelehnt hatte.

Naiv oder ignorant, muss hier nicht entschieden werden. Wichtiger erscheint mir, dass die gleichen Defizite in der Auseinandersetzung um den Gazakonflikt heute wieder auftauchen. Geradezu manichäisch wird der Konflikt gesehen als Widerstreit zwischen Israel als dem Repräsentanten des Westens (der Moderne) und den Palästinensern als (durch die Kolonialmacht/Besatzer) Repräsentanten unterdrückter (indigener?) Völker.

Die Foucaultschen Positionen (Antiuniversalismus, Dekonstruktion) schmiegen sich denn auch wunderbar und wirksam an das Theoriegeflecht des „progressiven“ Milieus an. Antiimperialisten, Anhänger der Identitätspolitik, Postkolonialismusbewegte usw. – sie alle konnten und können sich bedienen. Die Aufklärung mit ihren Eckpfeilern Universalismus und Vernunft gilt ihnen als wesentlicher Teil eines westlichen Überlegenheitsanspruchs. Mitverantwortlich gemacht wird sie heute für den Kolonialismus und seine Folgen. Für Postkolonialisten gilt, dass es kein überlegenes, weißes Wissen gibt, sondern nur noch unterschiedliches Wissen. Postkoloniales Denken ist erst einmal ein universitäres, ein akademisches Produkt. Die Postcolonial Studies basieren auf der Annahme, dass Wissenschaften bisher immer herrschaftsstabilisierend gewesen seien, d.h. westliche Herrschaft wird mit ihrer Hilfe gesichert. Die Fundamente der Aufklärung, die Denktraditionen der Moderne, wie Vernunft und Wahrheit haben ausgedient. Für die Politikwissenschaftlerin Ulrike Ackermann wurden „Wissen und Fortschritt als relevanten Bezugsgrößen und Denkanstöße radikal infrage gestellt und aufgekündigt.“ Der Universalismus wird zum Partikularismus des „weißen Mannes“ erklärt. Mit der gleichen Selbstüberheblichkeit, mit der der Wertekanon der (alten) westlichen Demokratien seit den 80er-Jahren nur noch müde belächelt wurde, mit der gleichen Hybris werden die neuen Narrative, sei es der Postkolonialismus, sei es die Identitätspolitik, nicht mehr hinterfragt, bzw. sie werden unreflektiert zu Gewissheiten erklärt. Nun könnte man ja all dies achselzuckend zur Kenntnis nehmen, die Welt hat sich schließlich schon immer weitergedreht.

Nur: Wenn das Individuum nicht mehr als gleichrangiges und gleichberechtigtes Subjekt gesehen und akzeptiert wird und der Individualität höchst skeptisch begegnet wird, dann ist hierin sicher auch mit ein Grund für die Empathielosigkeit zu sehen, die viele Akteure in die Auseinandersetzungen um den Gazakonflikt mitbringen. Die bedenklichen Folgen dieser Entwicklung sieht auch der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar, der bis 2015 am Hamburger Institut für Sozialforschung gearbeitet hat, mit Sorge: „Nachdem im Zuge der Postmoderne das kategoriale Besteck des Aufklärungsdenkens gewissermaßen in Trümmer gelegt worden war, schuf man sich identitätspolitische Krücken, um sich nicht nur akademisch, sondern mehr und mehr auch politisch zu positionieren. Kurzum, die verdeckte wie offene Feindschaft gegenüber Israel hat sich in diesem identitätspolitischen Lager regelrecht munitioniert.“

Was jedoch am meisten verwundert: Die Linke ist (oder war) doch einmal ein Kind der Aufklärung, Denken und politisches Handeln waren davon geprägt. Aber nicht zuletzt die ablehnende Haltung gegenüber dem Universalismus ist eine der Ursachen für eine Neuorientierung der Linken heute. Die Werte der Aufklärung besitzen keine Gültigkeit mehr, doch die Neupositionierung ist eine fragwürdige.

Nur ein Beispiel: Der Dekonstruktivismus hat (u.a.) die Bedeutung des Subjekts neu kategorisiert, das zu einer Veränderung des Verhältnisses zum Individuum führen sollte. Die Konsequenz – heute ist das Individuum nicht mehr durch seine spezifischen, sozusagen unverwechselbaren Charakteristika definiert, die sich von Individuen, die zur selben Gruppe gehören, unterscheiden. Heute ist das Individuum Teil eines Kollektivs, das sich durch seine Herkunft definiert. Die Zugehörigkeit zum falschen Kollektiv bedeutet dann meist Ablehnung. Der in Jerusalem geborene Künstler Ofer Waldmann trifft den Punkt: „Man sieht Menschen nicht als Menschen, sondern als Repräsentanten eines Kollektivs, und die Zugehörigkeit zu diesem oder jenem Kollektiv gewährt ihnen das Recht zu sprechen, das Recht zu trauern, das Recht konfus zu sein – oder gewährt es ihnen eben nicht.“

Das Rüstzeug, das die neuen Bewegungen benötigten, war also schon in den 80er-Jahren gefertigt. Jetzt galt es die Schlagworte, mit denen die Debatten und Auseinandersetzungen heute geführt werden – wie Critical-Race-Theory, Siedlerkolonialismus etc. daran anzudocken. “Neue Bewegungen” oder „Neue Linke“, die Begriffe, die hier bisher meist benutzt wurden, sind natürlich etwas diffus und unscharf, zeigen aber auch die Schwierigkeit, der in Teilen inhomogenen Bewegung gerecht zu werden. Bei genauerem Hinsehen ist im öffentlichen Raum oft die Rede von einer globalen Linken, von einer postkolonialen Linken, manchmal von einer identitären Linken oder einer woken Linken. Auch wenn „Woke“ inzwischen häufig abwertend zu einer Art Kampfbegriff von Rechts geworden ist, sollte man ihn sich nicht kapern lassen. Entstanden in den USA der 30er-Jahre, stand er in der Bürgerrechtsbewegung, und hier vor allem bei den Afroamerikanern, für das Aufstehen gegen Diskriminierung (sozial) ausgegrenzter Gruppen, für ein Wachsam-Sein. Die Sensibilität für benachteiligte gesellschaftliche Gruppen und ein geschärftes Bewusstsein für soziale Ungerechtigkeiten nimmt die Bewegung auch heute für sich in Anspruch. Da die Aktivisten sich fast alle selbst als woke Menschen sehen (und aus pragmatischen Gründen), wird hier also meist von der woken Linken die Rede sein.

So hat sich die propalästinensische Bewegung von den Feindbildern der alten Linken gelöst und sich neue Narrative gesucht. Inzwischen spielen identitätspolitische Postulate eine zentrale Rolle. „Offenbar hat es“, so noch einmal Wolfgang Kraushaar, „eine Art Mutation des alten linken Antisemitismus gegeben, der heute den Wider-stand des sogenannten globalen Südens gegen einen angeblich postkolonialistischen Westen fordert, vor allem gegen die USA und ihren Verbündeten Israel als deren Hauptfeinde.“ Auch Kraushaar sieht die fatalen Auswirkungen, welche dieses Denken mit im Gepäck führt, wenn er darauf hinweist, dass die „fundamentale Aufklärung, liberale Demokratie und Universalismus … gleich mit zur Disposition gestellt werden.“

Neues framing ist gefragt: Postkolonialismus und Identitätspolitik stehen im Mittelpunkt, flankiert von der Critical Race Theory und ihrem neuen Rassismusverständnis. Sie sind neben Siedlerkolonialismus und Antizionismus die wichtigsten verbalen Granaten, man könnte auch sagen: Blendgranaten, mit denen der imperialistische Brückenkopf des Westens, also Israel, attackiert werden soll.

Neu in dieser Auseinandersetzung sind nicht nur die frames, neu ist auch die Debatten- und Diskussionskultur, die den Postulaten der Aufklärung nichts mehr abgewinnen kann. Im Gegenteil, ein großer Teil dieser neuen Linken sieht als Folge der Aufklärung einen Universalismus, in dessen Fahrwasser rassistische oder kolonialistische Unterdrückung sehr gut gedeihen konnte. Es geht den postkolonialistischen, bzw. propalästinensischen Aktivisten folglich auch nicht (mehr) um das bessere Argument, das jemand vorbringen kann. Der Universalismus, der jedem Individuum zugesteht, von gleich zu gleich, auf Augenhöhe mit allen anderen, in eine Debatte einzugreifen, wird nicht länger akzeptiert. Wer eine andere Einstellung hat, wird niedergebrüllt, wird an der Darstellung seiner Positionen gehindert oder auch körperlich angegriffen.

Weltweit sind an vielen Universitäten antisemitische Vorfälle inzwischen Alltag und Übergriffe auf jüdische Studenten sind in unseren Medien höchstens noch eine kleine Notiz wert. Hörsäle werden besetzt und proisraelischen Studenten wird der Zugang zu den Vorlesungen verwehrt. „Ob die guten deutschen linken Studenten merken“, so fragt sich Philipp Peymann Engel, der Autor und Chefredakteur der „Jüdischen Allgemeinen Zeitung“, „dass sie die Geschichte ihrer Großeltern nachspielen?“ Die Verunsicherung wird noch verstärkt, da es häufig an der Rückendeckung durch die Universitätsleitungen fehlt. Erinnert sei nur an die Anhörungen vor dem US-Kongress, bei denen u.a. die Präsidentin der Harvard-Universität gefragt wurde, ob sie es als mobbing ansehen würde, wenn Studenten an ihrer Uni zum Völkermord an Juden aufrufen würden? Die Antwort der ersten schwarzen Harvard-Präsidentin: „Das kann sein, es kommt auf den Kontext an.“!

„Peanuts“, oder „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort“ – manche Aussagen lassen sich nicht mehr aus der Welt schaffen, sie sind (für viele von uns) haften geblieben. Möglicherweise steht dem „es kommt auf den Kontext an“ eine ähnliche Karriere bevor.

Frau Balà, die Integrationsbeauftragte im Berliner Stadtteil Neukölln, sieht die Möglichkeiten für Diskussionen an unseren Hochschulen als schon lange nicht mehr gegeben an. Man könne sich nicht mehr sicher fühlen, wenn man sich nicht für die Hamas positioniere, erklärte sie in einer Talkshow von Caren Miosga (26.5.).

Die intellektuelle Speerspitze des Landes, die wir eigentlich an unseren Hochschulen vermuten, gibt ein erbärmliches Bild ab. Und dies gilt für die Universitätsleitungen ebenso wie für Lehrende und Studenten. Dabei ist es wie so oft, dass sich Entwicklungen und Veränderungen von Zuständen zuerst in den USA zeigen, bevor sie mit einer gewissen Verzögerung auch bei uns festzustellen sind. Der Historiker und Soziologe Günther Jikeli hat die deprimierende wie abgefeimte Art des Umgangs mit diesem seit der Shoah nicht mehr für möglich gehaltenen Massaker auf den Punkt gebracht und die Reaktion an einer der US-amerikanischen Eliteuniversitäten, Harvard, aufgezeigt. Er zitiert aus einer Erklärung der Studenten, für die der Text jedoch vom Palestine Solidarity Committee entworfen wurde und die direkt am Tag des Massakers, am 7. Oktober, vorgebracht wurde. „Wir … machen das israelische Regime in vollem Umfang für alle Gewalttaten verantwortlich. … Die Massaker in Gaza haben bereits begonnen. … Das Apartheidregime ist der einzige Schuldige. 75 Jahre lang hat die israelische Gewalt jeden Aspekt des palästinensischen Lebens bestimmt. Die kommenden Tage werden entschiedenen Widerstand gegen die koloniale Vergeltung erfordern. Wir rufen die Gemeinschaft von Harvard dazu auf, Maßnahmen zu ergreifen, um die fortschreitende Vernichtung der Palästinenser*innen zu stoppen.“ An der University Of Washington waren es die “Students for Justice in Palestine“, die mobilisierten und antisemitisch Position bezogen. „Wir wollen nicht, dass Israel existiert, wir wollen nicht, dass diese zionistischen Gegendemonstranten existieren“, erklärte einer ihrer Redner. Genozidale Wunschvorstellungen, mit denen wir uns in der Zwischenzeit immer und immer wieder konfrontiert sehen. Gerade die Hochschulen zeigen, dass es sich bei dieser Entwicklung um ein globales Phänomen handelt. Der jüdische Journalist und Autor Hannes Stein, der in New York lebt, beschreibt die Situation in den USA sehr plastisch. „Die Erzählung, dass Israel ein kolonialer Siedlerstaat sei, der im Nahen Osten nichts verloren habe, und tagtäglich Palästinenser ausrotte, gilt heute vielen nichtjüdischen amerikanischen Studenten als ebenso evident wie der zweite Hauptsatz der Thermodynamik.“ Inzwischen haben die deutschen Hochschulen nachgezogen. Auch bei uns können jüdische Studenten häufig nicht auf Unterstützung ihrer Universitätsleitungen hoffen, die stattdessen mehr damit beschäftigt sind, propalästinensische tweets abzusetzen oder die vielen posts im Netz mit ihren likes zu garnieren. Die Präsidentin der TU Berlin Geraldine Rauch ist hier nur ein Beispiel von vielen.

Wichtig dabei ist, mit welcher Wucht die neuen Eckpfeiler der Wissenschaft, Postcolonial Studies oder Critical Whiteness Studies (CWS), zu den Grundlagen für neue Weltbilder wurden; dies gilt nicht nur für viele der sich engagierenden Teile der Hochschulbetriebe, sondern es beeinflusst auch das gesellschaftliche Leben und das Engagement nichtakademischer Aktivisten.

Für das Weltbild propalästinensischer Gruppierungen ist die Verbindung von Postkolonialismus und CWS naheliegend: Hautfarbe und Kultur sind entscheidend für die Verteilung sozialer Ungleichheiten, die Analyse ökonomischer Unterschiede wird (sozusagen) links liegen gelassen. Größere Teile der Linken, die sich an diese Bewegung ankoppeln, scheinen sich daran nicht weiter zu stören. „Wissen ist Macht“, den Älteren unter uns noch bekannt, wird von der Anhängerschaft der CWS eher kritisch gesehen. Sie geht davon aus, dass es sich hierbei eben um weißes Herrschaftswissen handelt. Es wird genutzt, um Herrschaftsverhältnisse durchzusetzen, ganz im Sinne Foucaults. Wissen ist Macht, aber als Herrschaftsinstrument der Weißen, bzw. des imperialistischen Westens. Die Abkehr von diesem Wissen inkludiert dann auch die Abkehr von den Werten der Aufklärung; unabhängig davon, ob man Foucaults Verachtung für die Vernunft der Aufklärung kennt oder nicht. Entscheidend für CWS ist, dass Rassismus als strukturelles Phänomen gesehen wird. Sie legt den Fokus auf Machtstrukturen, die zur Ungleichbehandlung von Minderheiten führen würden. Diese Diskriminierungen würden rechtlich abgesichert und so legitimiert, Foucault lässt grüßen.

Die Soziologin Ulrike Marz verweist auf die Folgen, wenn nicht mehr das Argument zählt, sondern die Herkunft. Woher wir kommen oder wer wir sind, kann nicht schon für sich „selbst der Beleg der Wahrheit oder der Falschheit“ sein, kann nicht das Argument oder die Fakten ersetzen. Heute eine Diskussion zum Gazakonflikt zu führen, erscheint kaum mehr möglich, Debattenkultur – ein Begriff aus der Klamottenkiste. Eben diejenigen, die vorgeben, solidarisch mit den Opfern zu sein, sind im Umgang mit Andersdenkenden (oder auch Andersseienden: Jude, Israeli) im Kampfmodus, in dem die Intoleranz zunehmend bedrohliche oder totalitäre Formen annimmt. Es kommt nicht darauf an, was du sagst ob es richtig ist oder falsch, hängt davon ab, welche Herkunft du hast. CWS schafft also auch die Grundlagen dafür, dass Juden/Israelis als Weiße definiert werden. So lassen sie sich als die Tätergruppe im Gazakonflikt darstellen und, das ist letztlich die Voraussetzung, als Weiße wesentlich leichter in den größeren Kontext des Siedlerkolonialismus einfügen.

CWS, andere sprechen auch von Critical Race Theory, ermöglicht auch die Täter-Opfer-Umkehrung: Juden sind kolonialistische Weiße, die Hamas-Terroristen, da Palästinenser, werden zu POCs (persons of colour) und sind somit die Opfer. Die Argumentation ist schlicht, und sie ist auch falsch: Mehr als 20% der israelischen Bevölkerung sind Araber. Viele von ihnen sind dunkelhäutig, ihre Vorfahren oft eingewandert aus den Maghrebstaaten oder Ägypten.

Deutungshoheit und Dominanz gewinnen PCS und CRT schon dadurch, dass sie heute an den Universitäten einen immer breiteren Raum eingenommen haben. Das Fundament dieser Studien bildet ein Denken, demzufolge die Verbrechen und Ungerechtigkeiten der Vergangenheit, also in den Zeiten des europäischen Kolonialismus`, einer Korrektur bedürfen. Dekolonisation bedeutet dann eine Neubewertung des westlichen modernen Denkens.

In der Kritik steht nun, wie eingangs ausgeführt, die Tradition der Aufklärung, d.h. die Ablehnung der Erkenntnisprinzipien der Vernunft. Denn diese „repräsentiere die Fortsetzung der kolonialen, eurozentristischen, weißen, männlichen Macht und Herrschaft“ und deshalb müsse, wie Ulrike Ackermann in ihrem Buch „Die neue Schweigespirale“ herausarbeitet, nach dieser Vorstellung „das gesammelte Wissen … umgestülpt, gesäubert und aus der Opferperspektive neu geschrieben werden.“ Dieses Denken ist inzwischen anscheinend common sense und es soll in unserer Gesellschaft auch Allgemeingültigkeit erringen. Ackermann verweist auf die offizielle Webseite der „Bundeszentrale für politische Bildung“, einem der Standardmagazine für Lehrer und Schüler, auf der dies dann auch als Standardwissen präsentiert wird: „ …dass die universalistischen Prinzipien der Aufklärung letztlich die Legitimationsgrundlage für das große koloniale Projekt gewesen sein sollen.“ Darstellungen werden nicht mehr auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft bzw. die Fakten interessieren nicht mehr. Und falsche wissenschaftliche Thesen, oder genauer gesagt Aussagen, werden dann gerne ungeprüft und unhinterfragt zur Weiterverwendung in Anspruch genommen. Gerade für die Auseinandersetzungen im heutigen postkolonialen Kontext zeigt sich, wie diese Forschung, bzw. die Neuinterpretation historischer Sachverhalte, immer mehr Einfluss gewinnt und die Ansichten, Einschätzungen und Weltbilder gerade der Palästinasolidarischen bestimmt. Edward Said, der wissenschaftliche „Vater“ der Postcolonial Studies wäre hier ebenso zu nennen wie Achille Mbembe, Historiker aus Kamerun, der den europäischen Sklavenhandel als wesentliche Ursache ansieht für den globalen Kapitalismus.

Und wenn gar Historiker, wie der Australier A. Dirk Moses, auf Wikipedia wird er als „Experte für die Geschichte des Völkermordes im kolonialen Kontext“ bezeichnet, als Ergebnis seiner Arbeiten zu der Ansicht kommt, „die weltweiten Verbrechen des Kolonialismus` seien fundamentaler und folgenreicher gewesen als der Zivilisationsbruch, den die Nationalsozialisten begangen haben“, bleibt nur noch Fassungslosigkeit. Aber dies zeigt auch, wie der Kampf um Deutungshoheiten in all den aktuellen Debatten verläuft: Das Weltbild dieser neuen Generation von Aktivisten (in unserem Fall für die Lösung des Gazakonflikts) basiert auf den Fundamenten von Postkolonialismus, CWT und Identitätspolitik. Diese drei Kernelemente lassen sich auch sehr gut verzahnen, da sie sich gut als ein sich wechselseitig beeinflussendes System denken und darstellen lassen. Glücklich sind sie nun, die Aktivisten der neuen Bewegung(en), die Fackelläufer des Fortschritts. Haben sie doch ihre neue ideologische Heimat gefunden, die ideologischen Pflänzlein sind den Samen entwachsen. Die Postmoderne bot den nötigen Freiraum, auf dem sich die Pflänzlein zu kräftigem Gewächs entwickeln konnten, unerschütterlich und allen Widrigkeiten trotzend, welche im Gegenwind der Faktenlage(n) am Horizont, also im Garten, auftauchten. Beharrlich und stetig wurde der Boden gedüngt, bis schließlich die verschiedenen Pflänzchen in ihrer ganzen Pracht die Anlage in einem völlig neuen Licht erscheinen ließen. Siedlerkolonialismus, Apartheid, Genozid, Antizionismus, und wie die neuen Pflanzen alle hießen. Manch einer schaute verdutzt in die neue Gartenanlage und vermutete, es handle sich um irgendwelche invasive Arten.

Und dann wurden die Gärtner abgelöst durch die Aktivisten. Die machten sich die Erde, also erst einmal den Garten, auf ihre ganz eigene Weise untertan, und so wurden die Pflänzchen zurechtgebogen, bis sie zu immer vielseitigerer Verwendung taugten. Und die Fackelläufer merkten, dass die ja nicht einfach eingebettet in die Natur vor sich hinvegetierten, sondern, wenn man etwas Schöpferkraft mitbrachte, erstaunliche Qualitäten entwickeln konnten. Wenn sie schön kompakt festgezurrt wurden, konnte man sie ganz doll als richtige Haudraufs verwenden. Wenn „Siedlerkolonialismus“ nicht ausreichte, wurde einfach noch ein Bündel „Zionismus“, vielleicht mit etwas „Apartheid“, hinzugefügt. Strahlkraft und Schlagkraft entwickelten die neuen frames und wunderbar ließ sich jetzt eine neue Welt zurechtzimmern. Alles so klar: weiß und schwarz, böse und gut, falsch und richtig. Der Feind Israel da, die hilfsbedürftigen Palästinenser hier.

Mit all dem, was der Garten bietet, ist klar: die (letzte) nächste Schlacht gewinnen wir. Vielleicht stimmt es sogar; doch zu welchem Preis?? Den oben aufgezählten Begriffen kommt also eine wichtige Aufgabe in den Debatten zu: Wie sie verwendet werden, entscheidet darüber, wie die Konflikte in Gaza gedeutet werden können. Wichtiger noch, wer die Deutungshoheit über die verschiedenen Narrative hat, schafft die Möglichkeiten, abweichende Meinungen abzuqualifizieren oder zu denunzieren.

Dies wird mal simpler, mal raffinierter in Szene gesetzt.

Die Krux mit dem Zionismus

Wer links ist, kann kein Antisemit sein, behauptete, wie anfangs erwähnt, Gerhard Zwerenz. Um überhaupt keine Zweifel daran aufkommen zu lassen, ist es innerhalb der Linken Usus, für sich in Anspruch zu nehmen dass ihr Kampf ein antizionistischer Kampf wäre. – Schon vor 50 Jahren hat Jean Amery erklärt: „Der Antizionismus ist im Anti-Israelismus oder Antisemitismus enthalten wie das Gewitter in der Wolke.“ Er hat die Strategie, die dahintersteckt, durchschaut und meinte: Der linke Antisemitismus versucht sich unsichtbar zu machen hinter … dem Antizionismus.“ Es wäre auch kaum vermittelbar, was das denn sein sollte, ein Antizionist. Wogegen ist er denn, und wofür braucht es dann diesen Begriff Antizionismus, der doch für eine Zuschreibung eine viel zu große Bandbreite hat?

Zion ist der Name des ältesten Teils von Jerusalem und wurde dann auch der Name des Tempelbergs. Als Zionismus wiederum bezeichnet man eine wichtige Bewegung des Judentums, die ursprünglich die Rückkehr aller Juden in das „Land Israel“ zum Ziel hatte und in Jerusalem, als Zion bezeichnet, einen religiösen Mittelpunkt vorsah. Vom Mittelalter bis weit in das 19. Jahrhundert hinein hatte diese Vorstellung Bestand. Dann allerdings wurde aus der religiösen Bewegung eine politische Bewegung. Zionismus war nun die Antwort auf die Bedrohung der Juden, vor allem auf die Pogrome in Osteuropa. Als Begründer des politischen Zionismus` gilt Theodor Herzl. Er wollte einen jüdischen Staat, einen Staat, in dem es die Gleichberechtigung von Mann und Frau ebenso geben sollte wie für Juden, Araber und sonstige ethnische Gruppen. Seine Beharrlichkeit und seine vielfältigen Aktivitäten zeitigten erste Erfolge, als 1917 in der sogenannten Balfour-Erklärung (Balfour war der britische Außenminister) den Juden eine „politische Heimstätte“ zugesagt wurde.

Doch die Zionisten waren keine einheitliche Bewegung. Dies zeigte sich schon im 19. Jahrhundert, als Moses Heß auf der einen Seite einen sozialistischen Staat in Palästina forderte und Leon Pinsker die „Selbstemanzipation der Juden als Nation.“ In der zionistischen Bewegung gab es also einen religiösen Zionismus, die Nationalisten und schließlich noch eine Arbeiterbewegung, ihr vor allem entstammten die Kibbuzniks. Daneben gab es von 1920-48 die Haganah („die Verteidigung“) eine paramilitärische Untergrundbewegung, deren Ziel es war, die Juden vor Überfällen zu schützen. Sie gilt als Vorläufer der israelischen Armee. Die Histradut wurde 1920 in Palästina gegründet als Gewerkschaft, die sozialistische, sozialdemokratische und zionistische Arbeitnehmer vertrat. Sie ist noch heute die größte Arbeitnehmervereinigung Israels. Und nicht zuletzt hatte die 1929 gegründete Jewish Agency eine zentrale Bedeutung. Sie wurde vom Völkerbund als Ansprechpartner der britischen Mandatsverwaltung angesehen und sollte die jüdische Immigration nach Palästina organisieren und beispielsweise Einwanderungszertifikate zuweisen. Ihr unterstand auch der Bau neuer Siedlungen sowie Erziehung, Kultur und Gesundheitswesen.

Zurück zur eigentlichen zionistischen Bewegung: Es gab und gibt einen sozialistischen Zionismus. Ziel war die Schaffung einer landwirtschaftlichen Gesellschaft mit der Gleichberechtigung aller Menschen, auch von Mann und Frau. In der Kibbuzbewegung waren die Arbeiter die Eigentümer der Produktionsmittel. Und darüber hinaus gab es auch noch einen revisionistischen Zionismus, der bürgerlich und antisozialistisch ausgerichtet war. In diesem Milieu entstanden später die Parteien des rechten Spektrums, so auch 1973 der Likudblock.

Wogegen und gegen wen also will der Antizionist nun vorgehen? Antizionismus ist Antisemitismus. Als der israelische Student Lahav Shapira kürzlich in Berlin körperlich attackiert wurde, traf es den Juden, Es sind Bäcker, Mitarbeiter des Bürgerbüros, Studenten, oder was auch immer, die auf der Straße, in einer Bar, auf dem Campus, oder wo auch immer attackiert werden. Der angeblich antizionistische Schläger erkennt den Juden, einen Antizionisten erkennt er nicht. Es ist die pure Heuchelei.

Doch es gibt ja noch andere Möglichkeiten, andere Pflänzchen in dem neu geschaffenen Garten, die im Kampf für die propalästinensischen Belange nutzbar gemacht werden können. Beliebt ist der Vorwurf des Siedlerkolonialismus, denn mit ihm soll es dann leichter fallen, Israel und die Juden historisch und im wahrsten Sinne des Wortes existenziell ins Unrecht zusetzen. Die Aktivisten, nennen wir sie Pflanzer, haben aufgrund ihrer Einbettung in das postkoloniale Weltbild keine Schwierigkeiten, die richtige Zusammensetzung der (verbalen) Gewächse zu finden, um das, was nicht passt, eben doch passend zu machen. Und schnell sind die richtigen Pflänzlein miteinander verbunden. Denn das postkoloniale Denken benötigt keine Grautöne mehr, in konsequent manichäischer Art und Weise geht es zuvörderst darum, die „Kombattanten“ in Täter- und Opfergruppen einzuteilen. Und im postkolonialen Fahrwasser sind die Tätergruppen immer unter den Weißen zu finden. Und jetzt braucht es nur noch die CRT –

Kurze Anmerkung: Bei näherem Eingehen auf die Problematik, die in der CRT verhandelt wird, steht man vor einer Schwierigkeit. Es gibt keine Rassen. Wenn wir von Rassismus sprechen, assoziieren wir jedoch beinahe zwangsläufig, unabhängig davon, dass es sich dabei um ein soziales Konstrukt handelt, „Rasse“. Wie konfliktbeladen der Umgang mit dem Begriff ist, zeigt die, auch öffentlich und medial sehr intensiv geführte Diskussion darüber, ob der Begriff „Rasse“ aus dem Grundgesetz gestrichen werden solle oder nicht. Hier wird er erst einmal benutzt. Auch diejenigen, die sich heute als Antirassisten bezeichnen, sehen in dem Begriff „Rassismus“ ja keine biologische Kategorie mehr. Im Mittelpunkt steht heute die Vorstellung von einem „kulturalistischen“ Rassismus.

Mit Critical Race Theory kommt man zu dem Schluss, dass es sich bei Juden um Weiße handelt, und weiter, dass diese deswegen nicht von Rassismus betroffen sind. Sich selbst als Antirassisten verstehend, beanspruchen die Anhänger der CRT für sich die Deutungshoheit darüber, wer Rassist ist und wer nicht. Was umso schlimmer ist, da man als Weißer mit einer neuen Erbsünde versehen wird, was wiederum zur Folge hat, dass man seine „Mitgliedschaft“ in den unterschiedlichsten Tätergruppen nicht mehr ablegen kann.

Was die Juden betrifft, werden sie reduziert auf die Gruppe der europäischen Einwanderer. Und auch der Unterschied zwischen osteuropäischen, bzw. russischen Strömungen und denen aus Westeuropa wird schlicht ignoriert. Dies wäre jedoch notwendig, um sich die innerisraelischen Konflikte zwischen religiösen und säkularen Gruppen, bis hinein in das Parteiengefüge, erklären zu können. (Wenn man es denn wollte).

Stattdessen die Selbstermächtigung, mit der ein Bild davon erstellt wird, wie und was der Jude ist: ein Bild wie ein erratischer Block, konstruiert mit einer Hybris, die die oszillierende Dynamik der israelischen Gesellschaft ignoriert. Der Einwand, es gehe nicht um Juden, sondern um Israelis, macht es nicht besser. Die große Mehrheit der israelischen Bürger sind Juden. Und dass in Israel auch Nichtweiße leben, mit Vorfahren aus nordafrikanischen Ländern, wie beispielsweise Tunesien, wird in der postkolonialen Szene ja konsequent ausgeblendet; passt nicht zum frame. Die eigene Radikalität ist wichtiger, als eine präzise Analyse des Gazakonflikts ins Zentrum des eigenen Handelns zu rücken. Stattdessen zieht man sich zurück in den oben beschriebenen Garten, sucht sich die nächsten verbalen Blendgranaten und suhlt sich im Sumpf der scheinbaren moralischen Überlegenheit. Doch die Absicht hinter diesem Vorgehen hat sehr wohl Hand und Fuß. Der angeblich erklärte Kampf gegen Rassismus, Kolonialismus und white supremacy findet seinen Niederschlag in der Delegitimierung Israels als weißer Siedlerstaat und imperialistische Speerspitze (der USA), die sich in der Unterdrückung der Palästinenser manifestieren würde.

Wo geht es hier zum Kolonialismus?

Doch nicht alle Teile der in Israel lebenden Bevölkerung sind weiß. Und Kolonialisten im Nahen Osten waren nicht die Juden, sondern Großbritannien und Frankreich. Und vor und während der israelischen Staatsgründung war von den USA nichts zu sehen. Nein, Israel ist kein Siedler-Kolonialstaat: Schon in der Antike gab es eine Provinz „Judäa“. Seit 2000 Jahren bewohnten Juden die südliche Levante (heute: Syrien, Libanon, Israel und die palästinensischen Autonomiegebiete). Die erste landwirtschaftliche Siedlung wurde 1848 von schon länger in Palästina lebenden Jerusalemer Juden gegründet. Erst Ende des 19. und im 20. Jahrhundert nahm die Einwanderung aus Europa Fahrt auf. Und diese Juden waren Flüchtlinge und keine Kolonisten. Und sie erwarben sich Land durch Kauf. Und deshalb ist der Vorwurf, Israel sei ein „weißes suprematisches Siedlerprojekt europäischen Stils“ ohne jegliche Substanz. Er dient der postkolonialen Linken als Vorlage, ohne dass es dafür eine Grundlage geben würde. Das europäische Siedlungsprojekt, verbunden mit der Flucht vieler Juden vor den Nazis, muss auch anderweitig für große Teile unserer Linken herhalten: „Free Palestine From German Guilt”, die Deutschen sind schuld, dass die Palästinenser sich mit den Juden auseinandersetzen müssen. Was auf den ersten Blick wohlfeil aussieht, ist es genau besehen ganz und gar nicht. Ganz abgesehen davon, dass für Theodor Herzl nicht nur Palästina als Zufluchtsort in Frage kam, für ihn war auch Argentinien eine Überlegung wert, fand die jüdische Einwanderung schon lange vor den Naziverbrechen statt.

Zwischen 1892 und 1903 emigrierten 25000 rumänische und russische Juden wegen der antisemitischen Pogrome in ihrer Heimat. Bis 1914 folgten 40000 zionistische Arbeiter aus Russland, die meisten von ihnen unzufrieden mit den Reformen von 1905. In den Jahren von1919 bis 1923 waren es 35000 Juden aus unterschiedlichen Ländern. Eine zentrale Ursache war sicher die Balfour-Erklärung, die der zionistischen Bewegung Auftrieb gegeben hatte. Zwischen 1924 und 1931 emigrierten weitere 80000 Juden aus der Sowjetunion und Polen. Die antisemitischen Übergriffe wurden auch teilweise von der polnischen Regierung mitgetragen. Es gab also schon vor der nationalsozialistischen Machtergreifung mehrere Einwanderungswellen, die insgesamt ca. 180000 Personen umfassten. Im Vergleich dazu kamen zwischen 1932 und 1939 aus NS-Deutschland etwa 200000 Juden nach Palästina, geringfügig mehr als in der Zeit davor. Und 1945 lebten zwei Millionen Menschen in Palästina: die zwei größten Bevökerungsgruppen stellten die Araber mit 1,4 Millionen Personen, und die Einwohnerzahl der Juden betrug 600000 Personen. Eine wie auch immer geartete Schuldfrage zu stellen, erscheint mir hier, gelinde gesagt, sinnfrei.

Bleibt aber immer noch zu klären, was es mit dem Siedlungskolonialismus auf sich hat. Das wird deutlich, wenn man sich die Definition des Berliner Historikers Sebastian Conrad vor Augen führt: „Siedlerkolonien liefen stets auf die Vertreibung und schließlich die Vernichtung der indigenen Bevölkerung hinaus – und zwar unabhängig von den Absichten der eingewanderten Siedler.“ Die Absicht, die hinter dem Vorwurf des Siedlerkolonialismus steckt, ist also die Delegitimierung und Dämonisierung Israels. Vernichtung der indigenen Bevölkerung muss nicht weiter vertieft werden. Doch die jüdische Einwanderung fand, wie oben skizziert, auf gänzlich andere Weise statt. Die Abstrusität der Unterstellungen bringt Nele Pollatschek in der SZ treffend auf den Punkt. „Zur Erinnerung: Israel wurde 1948 gegründet von einer kleinen Gruppe indigener Juden, die seit Jahrtausenden in dem Gebiet leben, Überlebenden der europäischen Vernichtungsmaschine und Vertriebenen aus den Ländern der Arabischen Liga, heute sind die meisten Juden Misrachim, also Menschen, deren Wurzeln im Mittelmeerraum und in Nordafrika liegen.“

In der Konzeption der postkolonialen Schwarz-Weiß-Maler jedoch werden die Ziele und Absichten der Israelis, der Juden als kolonialistisch bzw. imperialistisch charakterisiert, die Rollenverteilung ist unveränderbar: Palästina als Territorium, das Israel sich zur Beute machen will, wenn nicht durch Eroberung so doch als Besatzer. Dass es dort im Westjordanland eine palästinensische Autonomiebehörde gibt und dass die Hamas in Gaza seit über 20 Jahren die Wahlen gewinnt – Schwamm drüber. Es würde das manichäische Weltbild ja Risse bekommen.

Dass die Palästinenser seit dem Erstarken der rechtsgerichteten Parteien in der israelischen Regierung zunehmend unter Übergriffen und Gewalttätigkeiten zu leiden hatten und haben, die sich vor allem in der Radikalisierung der Siedler zeigt, ist unbestritten. Der Siedlungsbau ist ein zentraler Katalysator des Konflikts – Aber dies ist kein Siedlungskolonialismus und Israel ist keine Besatzungsmacht. Ganz abgesehen davon, dass es in Israel vor, und auch nach dem 7. Oktober innerisraelischen Widerstand gegen diese Aktivitäten gegeben hat. Wenn man sich die Mühe machte, die Situation im Nahen Osten durch die postkoloniale Brille zu analysieren und zu begreifen, dann wäre es sinnvoll, Großbritannien und Frankreich ins Blickfeld zu rücken. Es ist beschämend, wie die Briten im Gazakonflikt die Füße stillhalten. Und es ist so peinlich wie unverständlich, dass die propalästinensischen Milieus sich weigern, die Tatsache zu akzeptieren, dass die damalige Haltung der USA nur verstanden werden kann, wenn man als Motiv ihres Handelns sieht, dass das einzige Interesse der Amerikaner darin bestand, den status quo des britischen Imperialismus` aufzubrechen. Wenn schon Kolonialismus, dann sind die USA der falsche Buhmann. Zur Zeit der Gründung Israels wollten die Briten die Amerikaner mit ins Kolonialboot holen. Doch die Amerikaner hüteten sich davor, sich im Nahen Osten die Finger schmutzig zu machen und lehnten es ab, sich dort zu engagieren.

Dass die USA danach! in die britischen Fußstapfen traten, steht auf einem anderen Blatt. Für Israel wurden die USA schließlich der einzige Partner, der sich bereitfand, als Schutzmacht in Erscheinung zu treten. Schon vor fünfzig Jahren wies Jean Amery darauf hin, dass diese Partnerschaft permanent instrumentalisiert wurde: „Israel … ist nicht mitverantwortlich für alle politisch-militärischen Taten und Untaten dieses Landes“ (gemeint waren die USA).

Doch wie gesagt, anfangs waren es die Briten, die das Heft des Handelns ergriffen und in ihrer imperialen Großmannsucht zu dem sich bis heute verschärfenden Konflikt beitrugen. Sie suchten nach einer Möglichkeit, die arabischen Stämme zu einem Aufstand gegen das mit Deutschland verbündete Osmanische Reich zu bewegen. Organisieren sollte dies ein Offizier, des Öfteren wird er auch als Geheimagent tituliert, namens Thomas Edward Lawrence. (Für die Jüngeren: Dieser wurde berühmt als Lawrence von Arabien, seit er, meist an Feiertagen wie Weihnachten oder Ostern, im Fernsehen zu bewundern ist. D.h. wie er, den arabischen Stämmen voran, endlose Wüstenritte zurücklegt.) Dass seine Rolle heute mit der plakativen Formulierung „Held oder Verräter“ untersucht wird, soll hier nicht weiter untersucht werden. Doch seine falschen Versprechungen, welche die Briten nach dem Krieg nicht mehr kennen wollten, blieben bei den Arabern unvergessen.

Und nun meldete auch noch Frankreich Ansprüche an – bitte mit Seesicht; also Libanon. Briten und Franzosen setzten sich zusammen, um zu einem Interessenausgleich zu kommen. Das Ergebnis war im Mai 1916 das nach den beiden Verhandlungspartnern benannte Sykes-Picot-Abkommen. Die Interessengebiete wurden jetzt mit dem Lineal am Reißbrett festgezurrt: Das heutige Syrien und der Libanon standen unter französischer Mandatsverwaltung, und ebenso erging es dem heutigen Jordanien und dem Irak, die den Briten unterstellt wurden. Gebiete wurden zerstückelt, Grenzen willkürlich gezogen und Staaten wurden zu neuen Staaten (Syrien, Irak, Libanon) gemacht. Palästina sollte unter eine internationale Verwaltung gestellt werden. Nur Pech, dass die Bolschewiki als eine Art frühe whistleblower fungierten und die Absprachen öffentlich machten.

Und als ob dies alles nicht schon schlimm genug gewesen wäre, hatten die Briten fast gleichzeitig (2.11.1917) mit der Balfour-Erklärung die Lage weiter verschärft. Der zionistischen Bewegung wurde (wie oben skizziert) eine „nationale Heimstätte“ versprochen und die Unterstützung durch Großbritannien garantiert, dieses Projekt zu realisieren. Diese Schaukelstuhlpolitik der Briten, in deren Reihen es Anhänger der zionistischen Bewegung und Antisemiten gleichermaßen gab, musste vor allem die Araber vor den Kopf stoßen, was aber schwerlich den Juden oder später dem Staat Israel anzulasten ist.

Der arabische Frust über die kolonialen und imperialen Demütigungen hat seinen Ursprung hier. Ein Vorfall aus dem Jahr 2014 verdeutlicht dies sehr eindrucksvoll. Damals stellten Dschihadisten des IS, nachdem sie an der irakisch-syrischen Grenze die Wachen erschossen hatten, ein kurzes, in den Nachrichten durchaus Aufsehen erregendes, Video ins Netz: Die Grenze zwischen Irak und Syrien existiert nicht mehr. „The End Of Sykes-Picot”. Dass die Geschichtskenntnisse beim IS offensichtlich besser sind als bei vielen jungen Leuten hier, nun gut, aber die Kavallerie und das Lehrpersonal unseres akademischen Betriebs?

Eine kleine Notiz sei noch erlaubt: Nicht nur die Araber, auch die Kurden sahen sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs betrogen. Im Vertrag von Sèves 1920 wurde ihnen ein unabhängiges Kurdistan zugesagt, doch dann hatten die Briten und die Franzosen andere Pläne.

Genozid – Im wahrsten Sinn ein Totschlagargument

Es kommt also auf die Fakten an, und die sind in der Regel auch für alle zugänglich. Wer sie aber unter weißes Herrschaftswissen einordnet, hat auch kein Problem damit, sie zu ignorieren. Dann ist es auch wesentlich einfacher, den Staat Israel zu delegitimieren. Das gelingt mit den Vorwürfen, Israel sei eine Besatzungsmacht und ein kolonialistischer Siedlerstaat dann auch viel einfacher. Zweck erfüllt. Neben der Delegitimierung gibt es ein weiteres antisemitisches Betätigungsfeld mit dem Ziel der Täter-Opfer-Umkehrung und der Dämonisierung Israels.

Da ist noch ein Pfeil im Köcher, noch ein Pflänzchen im postkolonialen Gärtchen. Genauer betrachtet ist es ein vergiftetes Blümchen: „Genozid“ sein Name, und inzwischen ist es rege unter den propalästinensischen Aktivisten verteilt worden.

„Dies wird ein Krieg der Vernichtung sein und ein enormes Massaker, von dem man noch ähnlich sprechen wird wie von den Massakern der Mongolen“ (Abdel Rahman Azzam; Generalsekretär der Arabischen Liga kurz nach der Staatsgründung Israels 1948).

„Der Zionismus ist in seinen Anfängen eine kolonialistische Bewegung, aggressiv und expansionistisch in seinen Zielen, rassistisch und segregatorisch in seinen Strukturen und faschistisch in seinen Mitteln und Zielen“ (Palästinensische Nationalcharta 1964).

„Unser grundlegendes Ziel ist die Vernichtung Israels“ (Gamal Abdel Nasser; ägyptischer Staatspräsident kurz vor dem Ausbruch des Sechs-Tage-Krieges 1967).

„Die Stunde des Gerichts wird nicht kommen, bevor Muslime nicht Juden bekämpfen und töten, so dass sich die Juden hinter Bäumen verstecken und jeder Baum wird sagen: Oh Muslim, oh Diener Allahs, ein Jude ist hinter mir, komm und töte ihn.“ (aus der Gründungscharta der Hamas 1988).

„Wir müssen dieses Land auslöschen, weil es eine Katastrophe für die Islamische Nation ist.“ Und nach dem 7. Oktober: „Wir werden den Angriff vom 7. Oktober immer wiederholen, bis Israel vernichtet ist.“ (Chazi Hamad; Sprecher der Hamas).

Die Liste ließe sich beliebig verlängern. – Aber das sind doch gar nicht die Israelis, das sind doch die anderen. Täter-Opfer-Umkehr, simpel die Strategie, aber effizient und erfolgreich. Der eliminatorische Antisemitismus etablierte sich seit der Gründung des Staates Israel zunehmend in der arabischen Welt.

Die Strategie, Israel des Genozids zu bezichtigen, ist in mehrfacher Hinsicht schändlich. Der Vorwurf ist sozusagen der Dosenöffner für die Täter-Opfer-Umkehr und er wird in Szene gesetzt mit der größtmöglichen Wucht zur Dämonisierung; Genozid, Völkermord – mehr ist nicht mehr draufzusatteln. Nein, zur Sicherheit werden dann doch noch weitere Vorwürfe aus dem Arsenal antisemitischer Schlechtigkeiten beigemischt. Israel würde gezielt palästinensische Kinder töten, heißt es dann, und man ist verwundert, dass die mittelalterlichen Stereotype, die den Ritualmordgedanken wieder aufleben lassen, immer noch zum Einsatz kommen. Der Antisemitismusbeauftragte des Landes Berlin, Samuel Salzborn, verurteilt diesen Vorwurf mit Recht als besonders widerwärtig: Vor dem Hintergrund des jüngsten brutalen Angriffs der Hamas sei die Parole besonders perfide. Denn die Hamas habe vorsätzlich geplant und auf bestialische Art auch Kinder, Babys und Jugendliche organisiert ermordet.

Um die Täter-Opfer-Umkehr perfekt zu machen, wird auf einen weiteren Winkelzug zurückgegriffen. Dass und wie sich etwas Entscheidendes gerade für die postkoloniale Linke verändert hat, hat Philipp Peymann Engel in seinem letzten Buch „Deutsche Lebenslügen“ sehr klar am Beispiel von A. Dirk Moses, dem oben schon vorgestellten australischen Historiker, gezeigt. Für Moses bildet demzufolge „der Holocaust eine Version von Kolonialismus, ist also nicht mehr etwas Singuläres. Und als Folge überschatte die Erinnerung an den Holocaust die Erinnerung an die Opfer des Kolonialismus.“ Genauer betrachtet sieht man auch hier im Ergebnis die Täter-Opfer-Umkehr: Das Festhalten an der Singularität der Shoah verhindert in dieser Sichtweise eine unverstellte Auseinandersetzung mit den wirklichen Opfern im Konflikt in Palästina.

Auf die Spitze getrieben wird dies eben genau dadurch, dass die Relativierung des Holocausts in Genozidvorwürfe gegen Israel mündet – während gleichzeitig das Massaker der Hamas vom 7. Oktober, auch nach eigener Darstellung, tatsächlich in genozidaler Absicht durchgeführt wurde und zum anderen diese Vernichtungsabsicht bei verschiedenen propalästinensischen Aktivitäten immer wieder durch entsprechende Parolen Unterstützung findet. Forderungen, deren Realisierung letztlich nur durch die Vernichtung Israels zustande käme. Wenn die Einzigartigkeit des Holocausts infrage gestellt wird, er stattdessen in eine Reihe weiterer furchtbarer Verbrechen gestellt wird, dann lässt sich der „Opferstatus“ für Israels Gesellschaft leichter unterminieren. Meron Mendel, israelischer Historiker und Autor spricht in seinem aktuellen Buch „Über Israel reden“ vom „Einebnen des Holocausts mit anderen Genozid-Verbrechen, eben um letzten Endes die Juden nicht mehr als eine besondere Opfergruppe wahrnehmen zu müssen.“ Ein neues Narrativ rückt ins Zentrum. Die Kolonialisierung als Dehumanisierung, als ein Zivilisationsbruch, das Ur-Verbrechen der Weißen; Der Holocaust ist nur ein weiteres Kapitel in diesem Buch des weißen Schreckens, das sich nunmehr gegen die Weißen richtet“, so Alan Posener, dt.-brit. Autor und Journalist in: starke-meinungen (online-Magazin). Die postkolonialen Aktivisten beziehen sich dabei auf die Forschungsergebnisse der oben erwähnten Historiker, von Edward Said bis Achille Mbembe. Auch wenn deren, nennen wir es Thesen, heute fast so etwas wie Mainstream-Charakter haben, werden sie dadurch nicht richtiger. Der Holocaust lässt sich nicht einfach in die Reihe der anderen Verbrechen einreihen. „Den Nazis“, so Posener, „ging es eben nicht darum, die Juden auszubeuten und zu unterdrücken, wie ein koloniales Volk. Es ging ihnen darum, die Juden vom Gesicht der Erde (sic) zu tilgen. … Der Antisemitismus ist älter als der Rassismus.“ Die Absicht ist unschwer zu erkennen, es geht darum zu insinuieren, die Juden würden im Gegensatz zu den Palästinensern als „privilegierte Opfer“ wahrgenommen. Dies passt jedoch überhaupt nicht in die Skala des neuen Opferrankings.

„From the river to the sea / Palestine Will be free”.

Dies zu fordern, so Engel, „bedeutet die Endlösung. In Israel gibt es keinen Platz für Israelis. Keinen Platz für Juden. So wie fast im gesamten Nahen Osten. Judenreines Gebiet. Bravo.“ Die postkolonialistischen Aktivisten erweisen sich als gute Gärtner. Wenn wir einen Moment innehalten, sehen wir, dass die neuen Gewächse (von Siedlerkolonialismus bis Genozid usw.) Platz gefunden haben in einer großen Blumenschale, in der sie auch wunderbar miteinander harmonieren. Wer will, legt noch die “Apartheid“ dazu.

Ein seltsames Pflänzchen, von dem die meisten offensichtlich gar nicht wissen, woran man es erkennt. Bei Apartheid geht es nicht um „Beschränkungen oder Bevorzugungen, die ein Vertragsstaat zwischen eigenen und fremden Staatsangehörigen macht.“ Zur Erläuterung der Politikwissenschaftler Florian Markl: „Israelische Staatsbürger sind israelischem Recht unterworfen, Palästinenser im Westjordanland nicht, weil sie nun einmal keine israelischen Staatsbürger sind.“

In Israel sind mehr als 20% der Einwohner arabische Bürger und diese sind gleichberechtigt mit den jüdischen Israelis. Es gibt viele jüdisch-arabische Kitas und Schulen, die Krankenhäuser belegen ihre Zimmer nicht nach Bevölkerungsgruppen getrennt und so ist es auch mit den Sitzplätzen in den Bussen. Das heißt nicht, dass es keine Spannungen gäbe. Ängste und Ressentiments nehmen zu, was sicher auch mit der zunehmenden Zahl der Selbstmordattentate zu tun hat. Dass rechtliche Gleichheit gegeben ist aber im Alltag Diskriminierung unterschiedlichster Art präsent ist, ist traurig. Doch von einem Apartheidsstaat in Israel zu sprechen ist unredlich. Im Übrigen wird dabei nicht beachtet, dass die Diskriminierungen nicht rassistischer Natur sind, sondern eben ein Resultat des Nahostkonflikts.

Wenn alles noch nicht genug ist, dann wird es Zeit, mit doppelten Standards zu operieren. Diese wurden ursprünglich, so Bernd Stegemann in seinem Text „Identitätspolitik“, damit gerechtfertigt, „dass langwährende Benachteiligungen durch aktive Besserstellungen partikularer Gruppierungen ausgeglichen werden müssen.“ Die Hierarchie der Opfergruppen sieht dann die Juden, gewissermaßen mit Hilfe der identitätspolitischen Katalogisierung als Weiße gelesen, ziemlich am Ende der Skala.

Die Argumentationsstrategie ist simpel: Israel ist ein kolonialer Siedlerstaat. Das impliziert ein Auslöschungsprojekt, dem die Palästinenser ausgesetzt sind. Die Konsequenz: Den Palästinensern muss ein Widerstandsrecht zugestanden werden, sie haben das Recht, sich zu verteidigen – die Israelis nicht, deswegen ja die doppelten Standards: Weiß: also keine Opfergruppe, Besatzer: also Tätergruppe – Und dieses angebliche Widerstandsrecht für die Palästinenser entschuldigt dann auch jede Schändlichkeit, bis hin zu den Massakern vom 7. Oktober.

Es kommt auf den Kontext an

Es fehlt noch die Krönung der Manipulation und Selbsttäuschung: Der „Kontext“! „Es kommt auf den Kontext an“, ließ uns Claudine Gay, die Leiterin der Universität Harvard wissen, und sie ist nicht die einzige, die damit die Kritik an den eigenen Positionen zu entkräften versucht. Immer wieder ist zu hören, man wolle die Hamasmassaker nicht rechtfertigen, aber! Man müsse auch den Kontext sehen. Der Kontext sind dann die Repressionen, denen palästinensische Zivilisten ausgesetzt sind, die immer rigoroseren Absperrungen des Gazastreifens etc.

Doch der Kontext ist im wahrsten Sinne des Wortes ein weites Feld. Wer den Kontext tatsächlich berücksichtigen will, muss dann sehen, dass diese „Grenzsicherungen“ Resultat der immer zahlreicher werdenden Selbstmordattentate und anderer Angriffe waren. Im Kontext sehen darf und soll man die Vorgeschichte sehr wohl sehen. Dann würde man auf die Pogrome von Navi Musa (1920) zu sprechen kommen. Der israelische Historiker Tom Segev sieht in ihnen „gewissermaßen den Startschuss für den Kampf um das Land Israel.“ 1921 Jaffa, 1929 Hebron, 1936 Jaffa, 1938 Tiberia, 1947 Jerusalem. In Segevs sehr informativen Buch “Es war einmal in Palästina“ lässt sich die Vorgeschichte, also ein wichtiger Teil des Kontextes, ausführlich und differenziert nachlesen.

Kontext – ein gelungenes Beispiel für den Umgang mit dem Kontext eines Ereignisses ist zu finden auf Wikipedia (jawohl). Einer der ganz großen Schlüsselmomente für die Palästinenser, aber auch für die Israelis, war die sogenannte „Nakba“, oft ist dabei vom Mythos Nakba die Rede. Es wird eine israelische und eine palästinensische Sicht gezeigt. Die einzelnen zum Thema Nakba gehörenden Ereignisse werden nun aus der jeweiligen Sicht unterschiedlich bewertet, was zeigt, dass mehr Kon-Text auch zu einer differenzierteren Betrachtung und Einschätzung zwingt. Beispielsweise müsste dann die Opfer-Täter-Festlegung vorsichtiger vorgenommen werden.

Leider Wunschdenken, denn wenn der Kontext nicht zum eigenen Konzept passt, wird er ignoriert. Stattdessen wird in moralischer Verzwergung verurteilt und die Empörung in die Erregungsgemeinschaft hineingetragen. Mit dem entsprechenden Selbstbewusstsein kann man auf die Ergebnisse der entsprechenden Studien verweisen. Die Rückkoppelung mit der Wissenschaft bedeutet für die Aktivisten auch so etwas wie ein Argument für die Berechtigung ihrer Handlungen und Ansichten.

Das neue postkoloniale Denken trifft auf fruchtbaren Boden Die UNO und ihr Lieblingsgegner

In der Schule spricht man beim Verfassen von Erörterungsaufsätzen von einem Autoritätsargument, wenn man seine Behauptung mit Hilfe des Verweises auf irgendwelche Koryphäen untermauern möchte. In diesem Sinne stellt sich die propalästinensische Bewegung auch möglichst breit auf. Und es sind nicht nur die Verbindungen zum universitären Betrieb, die gesucht werden. Es hat Gewicht, wenn man für die eigenen Positionen auf Organisationen wie die UNO verweisen kann. Es ist hier nicht der Platz, die Probleme, die die Organisation grundsätzlich mit ihrer Reputation hat zu erörtern. Festzuhalten ist jedoch die eigenartige Positionierung im Nahostkonflikt. Schon 1975 erklärte sie in einer Resolution: „Der Zionismus ist eine Form des Rassismus und der rassistischen Diskriminierung.“ Bei der UN-Konferenz von Durban (2001) wird der Zionismus kurzum zum Rassismus erklärt. Was für eine Konferenz, die in extrem aggressiver Atmosphäre ablief und auf der antisemitische Aktionen den Ablauf der Tagungen charakterisierten, auch niemanden verwundern konnte.

Das IFO-Institut hat die Resolutionen der UNO analysiert und die Ergebnisse veröffentlicht. Danach wurden gegen Israel mehr Resolutionen verhängt als gegen alle anderen Länder zusammen. Es sind neben muslimischen auch viele Staaten des „globalen Südens“, die dafür Sorge tragen, den Konflikt auf die Tagesordnung zu setzen. Bezeichnend, die Resolution, die am 26. Oktober 2023 von mehr als 20 arabischen Staaten verabschiedet werden sollte. Darin wird Israel als „Besatzungsmacht“ bezeichnet und die Hamas, gut zwei Wochen nach dem Massaker, wird nicht einmal erwähnt.

Nach dem 7. Oktober herrschte in der UN-Organisationen erst einmal großes Schweigen. Dies galt auch für einen großen Teil der Menschenrechtsund Frauenorganisationen. „UN Women“ brauchte zwei Monate, um sich mit den jüdischen/israelischen Frauen zu solidarisieren. # Me Too unless you are a Jew. Und erst im März 2024 stellte ein sogenannter Sonderbeauftragter der UN fest, dass die Vergewaltigungen durch die Hamas-Terroristen Fakt sind. In der Zwischenzeit hatten, so die taz, zahleiche Künstler und Wissenschaftler in einem Offenen Brief erklärt, Israel versuche die behaupteten Vergewaltigungen, propagandistisch auszubeuten, um vom Gazakrieg abzulenken. Eine Stellungnahme durch die UNO war also schon längst geboten.

Wobei Stellungnahmen von führenden Vertretern der UNO so eine Sache sind. Der UNO-Generalsekretär Antonio Guterres sprach schon unmittelbar nach dem Massaker der Hamas „über klare Verletzungen des humanitären Völkerrechts,“ in Gaza wohlgemerkt. Und auch die Sonderberichterstatterin des UN-Menschenrechtsrats Francesca Albanese stellte auf einem Tweet am 10. Februar 2024 fest: „Die Opfer des 7. Oktobers wurden nicht wegen ihres Judentums getötet, sondern als Reaktion auf die Unterdrückung durch Israel.“

Die Erbärmlichkeit der Aussage ist das eine, in ihrer selbstgerechten Ignoranz, mit der sie immer wieder vom „siedlerkolonialen Prozess der Auslöschung“ durch die Israelis spricht, ist das vielleicht sogar konsequent. Das andere ist die Frage: Und wenn es so wäre? – Interessanterweise veröffentlichte die taz vor kurzem eine Rezension zu „Vereinte Nationen gegen Israel“, einem Buch von Alex Feuerherdt und Florian Markl. Der Rezensent Frederik Schindler ist „entsetzt“ über das Ausmaß, in dem die UNO eine antiisraelische Infrastruktur bekommen hat. Israel, so titelt bezeichnenderweise die taz, sei: „Der Lieblingsdämon der UNO“.

Es gehe um einen Kurs, der „von zentralen Institutionen der Vereinten Nationen wie der Generalversammlung und dem Sekretariat genauso verfolgt wird wie von den unzähligen Unter- und Sonderorganisationen (hier wäre neben dem Menschenrechtsrat vor allem UNRWA zu nennen), die sich unter dem Schirm der UN obsessiv an der Delegitimierung Israels beteiligen. Die UNRWA ist eine Unterorganisation der UN, welche die humanitäre Hilfe für die Palästinenser sicherstellen soll. Schon längere Zeit gibt es massive Kritik, die Anschuldigungen sind vielfältig: Die verwendeten Schulbücher seien teilweise mit antisemitischen Inhalten versehen, es gebe eine Unterwanderung durch die Hamas und der schlimmste Vorwurf: einige Mitarbeiter hätten sich an den Massakern vom 7. Oktober beteiligt.

Auch hochrangige UNO-Vertreter erkennen inzwischen, dass die Reputation auf dem Spiel steht und die Organisation erheblichen Schaden erlitten hat, ja sogar ihre Legitimität angezweifelt wird. Welche Möglichkeiten zur Wiedererlangung des verlorengegangenen Prestiges gibt es nun?

Manfred Nowak, österreichische Jurist, Menschenrechtsanwalt und ehemaliger Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen macht nun einen Vorschlag zur Lösung. Es sollten „die Staaten des Globalen Nordens, besonders die USA … ihre Blockade des Sicherheitsrates aufgeben.“ Die dahintersteckende Intention liefert er gleich mit. So würde „die UNO den ihr gebührenden Platz (sic) als friedensstiftende Weltorganisation wieder“ zurückgewinnen. -?? Mit israelfeindlichem Aktivismus soll also der gute Ruf, also der ehemals gute Ruf, zurückgewonnen werden. Macht und Autorität auf Kosten Israels, das bedeutet, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.

NGOs – Der Jammer mit dem BDS

Die israelkritischen bis israelfeindlichen Einstellungen lassen sich auch bei zahlreichen NGOs feststellen. Seien es BDS, ATTAC oder etwa Fridays for Future mit Greta Thunberg, auch wenn in Deutschland auf Distanz gegangen wurde und sich Luisa Neubauer in der Öffentlichkeit sehr klar gegen die Vermischung mit dem Palästinakonflikt positioniert hat.

Es ist auch müßig, darüber zu streiten, welche dieser Gruppierungen jetzt in Teilen von Haus aus antisemitisch ist oder nicht. Fakt ist, dass nicht erkennbar ist, inwieweit etwa der BDS bemüht wäre, nicht von den israelfeindlichen in die judenfeindlichen Gefilde zu geraten. Aufrufe zu Aktionen, wie den Boykotten finde ich zumindest bedenklich. Dass vormals solches auch schon gefordert wurde, nur mit der Parole: „Kauft nicht bei Juden“ garniert, hinterlässt ein ungutes Gefühl. Inzwischen ist dieses der Ablehnung gewichen. Im Sommer 2022 kursierten in den USA, in Boston, Schwarze Listen. Unternehmer waren darauf zu finden, auch Journalisten. Es war der BDS, der sie verbreitete, um die Leute als Zionisten denunzieren und in die Öffentlichkeit zu zerren. Auch so funktioniert linker Antisemitismus mit gutem Gewissen.

Vielleicht sind die BDS-Sympathisanten im Westen nur naiv zu denken geben sollten ihnen die Vorstellungen, die man in der arabischen Welt mit dem BDS verbindet. So erläutert Asad Abu Khalil, ein libanesischer Politikwissenschaftler, blogger und eben auch bekannter BDS-Aktivist aus der Gründungszeit der Organisation in einer Auseinandersetzung mit Norman Finkelstein (in Deutschland hat Finkelstein Aufmerksamkeit erreicht durch sein umstrittenes Buch „Die HolocaustIndustrie“) seine Vorstellungen zum arabisch-israelischen Verhältnis und macht klar: „Justice and freedom for the Palestinians are incompatible with the existence of the state of Israel.”

Finkelstein sieht den BDS kritisch und erklärt in einem Interview: „Die BDS-Aktivisten sprechen von einem dreistufigen Plan: Wir wollen ein Ende der Besatzung, das Recht auf Rückkehr und die gleichen Rechte für Araber in Israel. Sie glauben besonders schlau zu sein. Aber Sie und ich wissen, was das Ergebnis davon sein wird: Es wird kein Israel mehr geben.“

In seiner Replik auf Finkelstein bestätigt Abu Khalil (am 17. 2. 2012) in einem blog dann auch, wenn man so will, überraschend die Vorwürfe: „das wirkliche Ziel von BDS ist der Sturz des israelischen Staates.“ Mein Verhältnis zum BDS hat sich inzwischen stark verändert.

Kulturschaffende aktiv

Im Getümmel der Engagierten tummelt sich auch Prominenz jeglicher Klasse. Besonders eindrucksvoll präsentieren sie sich; sie stehen ja auch in der Öffentlichkeit, ganze Heerscharen von Künstlern oder Kulturschaffenden, um der Welt und uns zu zeigen, dass sie auf der richtigen Seite stehen. –

Auch wenn manchmal die Präsentation der Einstellung etwas, oder manchmal etwas stärker verunglückt. Zur Illustration eine nicht chronologische, eher dem Zufall überlassene Auflistung.

Februar 2024: Mehrere tausend Künstler fordern den Ausschluss Israels von der Kunstbiennale in Venedig. Kein „Genozid-Pavillon“ heißt es in einem Offenen Brief.

Schon lange vor dem 7. Oktober beherrschten immer wieder antisemitische Aktivitäten den Kulturbetrieb. In der Rapperszene sind derartige unappetitliche Klischees nichts Neues. Bei der Echoverleihung 2018 kam es zum Eklat: Die beiden Rapper Farid Bey und Kollegen sollten mit dem „Echo“ (Preis) ausgezeichnet werden und einen ihrer Songs vortragen. Dann mal los: „Mein Körper definierter als von Auschwitzinsassen“. Darf man so, ist das skandalös? Ein Hoffnungsschimmer war, dass sich einige Künstler nicht vor diesen Wagen spannen ließen und der Veranstaltung fernblieben. Nur einer protestierte öffentlich, Andreas Frege, der Frontmann der Toten Hosen (danke Campino). Skandal? Echo schaltete seinen Ethikrat ein, der nach längerer intensiver Beratung zu dem Ergebnis kam, dass es sich hier um einen „Grenzfall“ handle, der aber von der künstlerischen Freiheit noch gedeckt sei. Roger Waters (Gründungsmitglied der Rockgruppe Pink Floyd) ließ immer wieder am Ende seiner Konzerte ein riesiges aufblasbares Schwein über den Besuchern schweben – und darauf den Davidstern. Für jeden der wollte, war dann klar, dass dies auch die Aufforderung beinhaltete, das überlebensgroße Tier zu zerstören. Kunst, künstlerische Freiheit, oder doch nicht? Bei Versuchen der für die Auftritte zuständigen Kommunen im letzten Jahr, die Veranstaltungen zu verhindern, sind diese regelmäßig an den Tücken der Justiz gescheitert.

Die Oscarverleihung 2024 hatte einige politische Aktionen zu vermelden. Am öffentlichkeitswirksamsten aber war sicher die Dankesrede des britischen Regisseurs Jonathan Glazer, der für seine Regiearbeit zu „The Zone of Interest“ den Oscar bekommen hat. Sein Vorwurf: Israel würde den Holocaust instrumentalisieren („kapern“), um die Besetzung der Palästinensergebiet zu rechtfertigen. Dafür wurde er von mehr als 450 jüdischen Kulturschaffenden in einem Offenen Brief kritisiert. Darin heißt es u.a.: “Wir fechten an, dass unser Jüdischsein missbraucht wird, um eine moralische Gleichsetzung zwischen einem Naziregime, das eine Rasse von Menschen ausrotten wollte, und einer israelischen Nation, die ihre eigene Ausrottung abwenden will, herzustellen.“

Mit dem nächsten Beispiel zeigt Wolfgang Kraushaar die Dimension der Schieflage im Kulturbetrieb auf. Der Leiter der Oberhausener Kurzfilmtage Lars Henrik Gass hatte zu einer Demonstration aufgerufen: „Zeigt der Welt, dass die Neuköllner Hamasfreunde und Judenhasser in der Minderheit sind. Kommt alle.“ Die Kulturschaffenden (ca. 2000!) waren empört – nein, sie kamen nicht zur Demonstration, sie waren empört über Gass und bezichtigten ihn, er würde die Bevölkerung von Neukölln rassistisch diskriminieren. Solidaritätsverweigerer allenthalben sieht Kraushaar im gesamten Kunst- und Kulturbetrieb (das gleiche gilt für die Hochschulen). Ausladungen israelischer Künstler, Filmfestivals ohne israelische Filme. „Viele Veranstaltungen sind jetzt judenrein,“ brachte es der Publizist Josef Joffe in der NZZ sarkastisch auf den Punkt.

Jetzt könnte man sagen, Künstler sind von Haus aus links, wenn auch dies möglicherweise mit der eigenen Lebensgestaltung kollidiert. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit lösten beispielsweise die Reichen das Problem mit Geld und Stiftungen für die Kirche. Analog dazu schenken die Kulturschaffenden heute ihre Sympathie dem Fortschritt und hoffen, dass ihr (verbales) Engagement ihnen eine Art moralische Entlastung gibt, es ist dann so etwas wie ein nichtpekuniärer Ablasshandel. Sie schwimmen mit, freuen sich, moralisch und politisch auf der richtigen Seite zu stehen. Sie sind auf ihre Außenwirkung bedacht und sich auch der großen Wirkung ihrer Statements bewusst. Für die einen gehört das Israelbashing zum kulturellen Style (Rap), für die anderen ist es ein Mittel zur Selbstdarstellung. Das Problematische, vielleicht auch Widerwärtige daran, ist, dass man sich jederzeit hinter der Kunstfreiheit verstecken kann. Die Documenta war hierfür wohl eines der deprimierendsten Beispiele.

Sprache ist eine Waffe (Kurt Tucholsky)

Sich hinter der Kunstfreiheit zu verstecken, ist die eine Möglichkeit. Vielleicht effizienter ist es, sich sprachliche Deutungshoheit zu verschaffen. Die Kognitionswissenschaftlerin Monika Schwarz-Friesel sprach schon vor zehn Jahren in „Gebildeter Antisemitismus“ (2015) von einer „Israelisierung der antisemitischen Semantik.“ Schon seit Jahren und jetzt in der Auseinandersetzung mit dem Gazakonflikt verschieben sich, sozusagen im Beiboot, die Grenzen dessen, was lange Zeit Tabu war, was sagbar ist. Der Konflikt ermöglicht es, die Projektionsfläche für antisemitisches Verhalten Stück für Stück zu vergrößern.

„Das Gift heißt Judenfeindschaft,

das Mittel ist die Sprache

und der Tatort der Verabreichung ist die tagtägliche Kommunikation.“

So formuliert es Schwarz-Friesel in „Toxische Sprache und geistige Gewalt“ (2022).

Das beste Beispiel: Im postkolonialen Kontext lässt sich unser deutsches Tabu, das für die meisten von uns die Singularität der Shoah nach wie vor darstellt, leichter brechen. Die Anhänger postkolonialer Theorien versuchen den Antisemitismus als ein Puzzlestück im weiten Feld des Rassismus zu positionieren. Der Sozialwissenschaftler Ingo Elbe hat in seiner neuesten Veröffentlichung „Antisemitismus und postkoloniale Theorie“ auf deren inhaltliche Fehler, wie auch auf die dahintersteckende Intention hingewiesen. Während im Kontext des Rassismus die ökonomische Ausbeutung und die Herrschaftsstabilisierung im Fokus steht, hat der Antisemitismus immer die Auslöschung als letztes Ziel. Seine Subsumierung unter den Rassismus zeigt, wie die Semantik eine andere wird. So lassen sich die Juden aus der Opferrolle herausfiltern und sie als Repräsentanten, ja als Stellvertreter des Westens im Nahen Osten etablieren, als Teil der weißen Mehrheitsgesellschaft. Elbe spricht von einer „begrifflichen Auflösung des Antisemitismus in Rassismus.“

Die Verschiebung der Begrifflichkeit geht auch noch in eine andere Richtung. Diejenigen, die sich heute als Antirassisten bezeichnen, sehen in dem Begriff „Rassismus“ keine biologische Kategorie mehr. Im Mittelpunkt steht jetzt die Vorstellung von einem kulturalistischen Rassismus. Genau besehen schlägt man so zwei Fliegen mit einer Klappe: Der Antisemitismus wird zu einem Element des Rassismus, zu einem unter vielen. Dass dem Antisemitismus jedoch, im Gegensatz zu den anderen „Rassismen“, eine Vernichtungsideologie vorsteht wird geflissentlich ignoriert. „Was in den 80-er Jahren noch als reaktionär galt, wird sich nun als links, offen und multikulturell präsentieren, als Verkörperung eines längst überfälligen Denkens, das es nun auch in Deutschland zu verbreiten gilt. Mit Begeisterung werden die Verbrechen des Kolonialismus genutzt, um mit einer Mischung aus Antisemitismus und Feindschaft gegenüber dem Westen die Shoah zu relativieren und Demokratie und Aufklärung verächtlich zu machen,“ so Stefan Laurin, Journalist und Herausgeber des Blogs „Ruhrbarone“.

Die Sprache in den Medien

„Wenn das Denken die Sprache korrumpiert“, so George Orwell, „korrumpiert die Sprache auch das Denken.“

Es ist nichts Neues: Die Deutungshoheit und die Definitionsmacht über Narrative, Wörter und Begriffe (sie wurde schon an andere Stelle thematisiert) ermächtigt zur Bewertung von Ereignissen, zur Beurteilung dessen, was vorgefallen ist. Die Lenkung durch gezielte und sorgfältige Wahl; Wortwahl erhält durch ihren Einsatz in den Medien eine große Bedeutung, man könnte sagen: ihr kommt eine große Wirkmächtigkeit zu.

Die postkolonialen Gärtner haben, sich dessen bewusst, inzwischen auch für den öffentlichen Raum mit ihren neuen Pflanzen erfolgreiche Arbeit geleistet. Wie die ehemals exotischen Früchte, Kiwis beispielsweise, heute zum Angebot in jedem Supermarkt gehören, so finden auch die postkolonialen Narrative inzwischen Platz im Alltag, im öffentlichen Raum und sie haben sich ihren Geltungsbereich in der Berichterstattung der Medien verschafft. Mit dem Unterschied: Eine Kiwi ist eine Kiwi – in unseren heutigen Debatten aber ist der Fall diffiziler. Nehmen wir an Stelle der Kiwi beispielsweise die Apartheid oder den Siedlerkolonialismus etc.: Dann ist es jetzt abhängig davon, in welcher Obstkiste sich die Kiwi befindet, um zu wissen, ob es sich um eine Kiwi oder einen Apfel handelt. Woher die Transportkiste kommt, entscheidet darüber, ob die Kiwi Kiwi ist bzw. der Genozid Genozid.

Das ist also nicht nur diffizil, es ist auch sehr diffus. Doch in weiten Teilen unserer Medienlandschaft ist man mittlerweile geübt darin, die Darstellung des Gazakonflikts auf der Grundlage des uns inzwischen vertrauten Pflanzerkollektivs routiniert und zur Zufriedenheit der Gärtner wiederzugeben. Die Begriffskaperungen sind längst Teil der Berichterstattung in den Medien geworden.

Ein Beispiel: Nachdem die Hisbollah seit mehr als einem Jahr den Norden Israels mit Raketen attackiert hat, nachdem mehr als 60000 Israelis in dieser Zeit evakuiert werden mussten und nachdem die Hisbollah seit mehr als einem Jahr die Waffenstillstandsresolution des UN-Sicherheitsrates nicht befolgt (Rückzug aus dem Süden des Libanon) und sich in der UNO auch niemand genötigt sieht, darauf hinzuweisen und dies einzufordern, nach all dem reagiert Israel jetzt und attackiert die Hisbollah im Süden des Libanons.

Und nach all dem reagiert die Tagesschau der ARD jetzt. Hanna Resch, die Israel-Korrespondentin, meint dazu: „Sie nehmen einen vollen Krieg mit der Hisbollah in Kauf. Das hat auch gezeigt, dass in den letzten Tagen und Wochen die israelische Armee immer wieder rote Linien der Hisbollah klar überschritten hat.“ Der Fernsehzuschauer folgt dem Nachrichtensender seines Vertrauens, und erfährt nicht die halbe Wahrheit, sondern die falsche. „Israel bombardiert Hunderte Ziele Hisbollah schießt zurück“ (22.9. Startseite von t-online) Die „Textanalyse“ erspare ich uns, auch wenn der Grad an unverfrorener manipulativer Strategie weh tut. Festzuhalten bleibt: Die meisten Medien berichten über den Raketenbeschuss der Hisbollahstellungen im Libanon, aber verschweigen, dass es eine Reaktion auf die Drohnenangriffe ist.

Ein Beispiel: „Angriff auf Schule“ titelt die Süddeutsche Zeitung – und unsere Vorstellung, unsere Assoziationen eigentlich klar. Im Artikel wird erst nach und nach der tatsächliche Zusammenhang, in dem der Angriff steht, verständlich. Es handelt sich um eine ehemalige Schule, bzw. ein Gebäude, in dem sich Hamas-Terroristen verschanzt hielten, die die „Schule“ für militärische, d.h. terroristische Zwecke nutzten.

Was unter einem Angriff auf eine Schule zu verstehen ist, dafür könnte ein Ereignis, das vor 50 Jahren stattfand, herangezogen werden: das Ma‘alot-Massaker, benannt nach dem kleinen Ort, an dem es im März 1974 geschah. Die sogenannte „Demokratische (sic) Front zur Befreiung Palästinas“ stürmte die Schule des Dorfes, besetzte sie und nahm Geiseln. Das Ergebnis: 31 tote Israelis (21 Schüler und 10 Erwachsene). Dies ist (bzw. war) ein Angriff auf eine Schule. Man könnte jetzt einwenden, dass der Leser letztlich ja hinreichend und korrekt informiert worden sei. Doch wenn man lediglich, oder zuerst nur die Titel/Überschriften in den gedruckten Medien liest, wird man beinahe zwangsläufig assoziativ in eine Richtung gelenkt, die von der Realität/Wirklichkeit wegführen kann. Und auch wenn im weiteren Verlauf eines Artikels einiges in anderem Licht erscheint, ist das mindset schon vorstrukturiert.

Ein Beispiel: Die BBC erklärte, sie wolle in Zukunft nicht mehr von „Terroristen“ sprechen, da dies bedeute, dass man Partei ergreift. Die Scheinheiligkeit ist offensichtlich, denn es inkludiert eine Neutralität, die den Charakter der Ereignisse auf den Kopf stellt. Es bedeutet nicht, keine Stellung zu beziehen, sondern de facto ist dies ein Freifahrschein, um Stellung gegen die Opfer zu beziehen. Für Tania Martini, Kulturredakteurin der taz, ist dies nichts anderes als eine Relativierung dessen, was die Täter in Szene gesetzt haben und hält dem entgegen: „Terror ist Terror. Terror ist nicht Widerstand, nicht Dekolonisation, nicht Befreiung.“ Die Seriosität der Berichterstattung nimmt Schaden, wenn Israel und die Hamas auf die gleiche Stufe gestellt werden.

Noch ein Beispiel: Und noch einmal die ARD: „Nach palästinensischen Angaben trat nun ein erster Fall von Kinderlähmung auf.“ Im Anschluss daran erfährt man, dass der UN-Generalsekretär eine Kampfpause fordert, damit die Versorgung mit dem Impfstoff gewährleistet werden könne. Wenn nicht, sei es, so der Generalsekretär, „unmöglich eine Polio-Impfkampagne durchzuführen, während überall der Krieg tobt.“ Die Tagesschau erweckt den Eindruck, dass die Zerstörungen in Gaza zum neuerlichen Ausbruch von Polio geführt hätten, und! Dass durch das militärische Vorgehen der israelischen Armee keine Impfungen möglich seien.

Mena-watch, ein österreichischer Thinktank zu Nahost, hat sich damit etwas näher beschäftigt: Die israelische Armee lieferte seit Oktober 2023 circa 28000 Ampullen des Polio-Impfstoffs (diese reichen für 2,8 Millionen Dosen). Im Juli dieses Jahres wurde das Virus entdeckt. Und es wurden dann am Grenzübergang Kerem Shalom 9000 Ampullen, ausreichend für 90000 Impfdosen, bereitgestellt. Auch sollen weitere Fläschchen mit Impfstoff geliefert werden, ausreichend für die Impfung von mehr als 1 Million Kinder.

Zu hören oder lesen ist in unseren Medien davon so gut wie nichts. Es war, entgegen den Erklärungen der UN, auch während der militärischen Auseinandersetzung möglich, die Kinder in Gaza mit Impfstoff zu versorgen. Warum Guterres nichts davon sagt, dass die israelische Armee, dabei ist, eben diese Impfaktion zu organisieren, ist unverständlich. Weiß er es nicht? Schwer vorstellbar. Ist es eine Strategie, mit der er doch noch die von ihm geforderten Kampfpausen realisieren will? Passt die Impfaktion nicht ins Täternarrativ? Ja, und die ARD weiß es auch nicht. Aber sie stellt einen Informationsblock in ihre Nachrichtensendung, der die wichtigsten Zusammenhänge verschweigt.

Sprache ist ein Herrschaftsinstrument, Lenkung durch Sprache ein Alltagsphänomen. Sprache und ihr manipulativer Charakter: Alles bekannt, die Beispiele in den Medien sind zahllos, aber sie werden zu selten wahrgenommen. Sprache weckt unsere Assoziationen, und Bilder in unserem Kopf. Da werden „Palästinenser getötet“ und „israelische Geiseln tot geborgen.“ Im ersten Fall ist ein Handelnder inkludiert, ein aktiver Täter, im Fall der Geiseln fehlt der Akteur, es wird verschleiert, dass sie ermordet wurden. An der Festlegung der Täter-Opfer-Kategorien darf nicht gerüttelt werden. Dass zahlreiche palästinensische Zivilisten sich an Plünderungen am 7. Oktober beteiligt haben oder zu Handlangern der Hamas wurden, indem sie israelische Geiseln in ihren Wohnungen festhielten, dass viele sich weigerten, den israelischen Militärs Hinweise zu geben, wo die Geiseln versteckt wurden, gehört kaum zur Berichterstattung. Vieles lässt sich auch nur schwer überprüfen. Die Demütigungen und Übergriffe auf die Israelis während der Geiselübergabe jedoch machen Schilderungen der Freigelassenen glaubhaft.

Es geht nicht darum, selbst in eine Täter-Opfer-Umkehr zu verfallen, oder um eine neue Kategorisierung. Hilfreich wäre jedoch ein Aufbrechen dieser Kategorien, ein genaueres Zurkenntnisnehmen der Fakten. Doch bestimmend in der medialen Öffentlichkeit ist eine sehr manichäische Betrachtung, wenn es um den Gazakonflikt (auch schon wieder ein Euphemismus). Was nicht passt, kommt ins Prokrustesbett und wird passend gemacht.

Es hat Monate gedauert, bis die Süddeutsche Zeitung sich in der Lage sah, darüber zu berichten (aber sie hat wenigstens berichtet), dass es sich bei den an den Kampfhandlungen vom 7. Oktober beteiligten palästinensischen Zivilisten nicht um Einzelfälle handelt. Die israelische Zeitung Times of Israel spricht von mehr als 2000 Personen. Man muss gar keinen bösen Willen unterstellen: Die neuen Narrative sind inzwischen fest in unserer Gesellschaft verankert, und sie bilden auch die Grundlage für die Darstellung in der Presse oder in Funk und Fernsehen. Der mediale Kotau macht es dann leicht, im Strom der progressiven Propalästina-Aktivisten (schon wieder ein irreführender Begriff – präziser wäre wohl die Formulierung „Antiisrael-Aktivist“) mitzuschwimmen. Die postkolonialen Gärtner bekommen also permanent ihre mentalen Streicheleinheiten. Sie sehen sich als Teil der Öffentlichkeit, und ihren Aktivismus, egal in welcher Form, als Teil der öffentlichen Meinung. Teile des politischen Parteienspektrums, namhafte und respektierte Organisationen wie die UNO, die Erkenntnisse der Wissenschaft und des akademischen Betriebs, die muntere Unterstützung aus dem (pop) kulturellen Milieu und eben große Teile der medialen Welt – wenn diese alle hinter der progressiven Phalanx stehen, dann kann sie mit Recht selbstzufrieden, selbstbewusst und selbstsicher in die Schlacht – bzw. in die Auseinandersetzung mit dem imperialistischen Feind ziehen. Sie kämpft auf der Seite der Guten und ihre verstörende Empathielosigkeit richtet sich nur gegen einen Gegner, der als Vertreter des Bösen gilt. Doch genau dies, die völlige Empathielosigkeit, mit der barbarische, grausame Exzesse der Gewalt ignoriert oder zur Seite geschoben werden, entsetzt (mich).

Auf den ersten Blick ist dies verwunderlich, da es doch das charakteristische Merkmal woker Gruppierungen ist, die Repressionen gegen Unterdrückte, man könnte sagen gegen die Schwächeren, zu brandmarken. Doch in dieser Haltung zeigt sich eine gewisse Janusköpfigkeit. Es ist dies das seltsame Zusammenspiel von Opfer-Hierarchien (auf Grund der postkolonialen frames stehen die Palästinenser in der Skala viel höher als Israelis) und einer sehr eigenwilligen Vorstellung von Empathie, derzufolge jemand die Opfer nur dann verstehen kann, wenn er das Gleiche erlebt hat – in der Konsequenz erfasst ein Weißer folglich nicht das Leid eines Schwarzen oder eines Palästinensers. Wer Empathie aufbringen kann, das hängt nach dieser kruden Vorstellung von seiner Identität ab. Die weitere Konsequenz ist (ich denke, es geht nicht nur mir so) eine momentan weit verbreitete Haltung, die geprägt ist von einem hohen Maß an Gefühllosigkeit. Genauer gesagt, Mitgefühl bleibt nur für die Mitglieder der eigenen Community. Mit dem neuen Opferranking entscheidet die Identität innerhalb der Opfergruppen über den Opferstatus eines Individuums – und nicht das Ausmaß seiner Notlage.

Es ist müßig, herausfinden zu wollen, inwieweit diese Empathielosigkeit der Dummheit/Unwissenheit geschuldet ist, oder ob diese Unwissenheit nicht eine gewollte ist, sozusagen eine Form der Realitätsresilienz. Orwell hat es in seinem dystopischen Roman auf den Punkt gebracht. „Unwissenheit ist Stärke.“ Nele Pollatschek hat die Maßlosigkeit dieser Haltung in einem Artikel in der SZ wunderbar gezeigt: „Auf einem Tweet, der daran erinnerte, dass Zivilisten immer Zivilisten sind, antwortete eine Professorin aus Yale, dass Siedler keine Zivilisten seien, was erstens rechtlich falsch ist, egal was man von den Siedlern hält, zweitens inhaltlich falsch, weil die von Hamas ermordeten Zivilisten keine Siedler waren, drittens moralisch falsch, weil man nicht diskutiert, ob Babys Zivilisten sind.“ Es ist nicht Voraussetzung, Geschichte zu studieren, um zu wissen, was Terrorismus ist.

Es ist schwer zu sagen, was stärker nachhallt, das Entsetzen über die Abgestumpftheit der Professorin oder die Verwunderung darüber, mit welchem Maß an intellektueller Armut eine akademische Karriere möglich ist.

In die gleiche Richtung zielt auch Judith Butler, die Philosophin von der Berkeley-Universität, die das Massaker der Hamas noch immer als Widerstand bezeichnet. „Sie bleibt, wie von ihr bekannt, fern aller politi schen Empirie“, so die taz. Jenseits des Nachvollziehbaren erklärt sie das Massaker zu einem „Aufstand“, der sich allerdings nicht gegen Israelis richtet, zumindest nicht gezielt (?) gegen Israelis. Vielmehr handle es sich hier um den Widerstand gegen den israelischen gewalttätigen Unterdrückungsapparat. „Inwiefern das Köpfen und Verbrennen von Säuglingen Widerstand sei, erklärt sie nicht“, wie Frau Schwarz-Friesel bitter vermerkt. Butler hat schon 2006 die Hamas als „progressiv“ charakterisiert und sie als „Teil der globalen Linken“ bezeichnet, was allerdings das Kuratorium der Stadt Frankfurt nicht daran hinderte, ihr 2012 den Adorno-Preis zu verleihen. Adorno, der scharfsinnige Analyst des Antisemitismus in der deutschen Nachkriegsgesellschaft, würde sich wahrscheinlich im Grab herumdrehen, wenn er … oder er würde entnervt über das Projekt der Aufklärung räsonieren.

Zurück zu den Fakten: Forderungen, die heute (im Jahr 2024) laut werden, Butler solle den Preis zurückgeben, da sie das Massaker vom 7. Oktober noch immer als „Akt des bewaffneten Widerstandes“ bezeichnet, bleiben wirkungslos. Die Forderung, ihr den Preis abzuerkennen, begründet der hessische Antisemitismusbeauftragte Uwe Becker: „Wer die barbarischen Massaker der Terrororganisation Hamas vom 7. Oktober als bewaffneten Widerstand rechtfertigt und die Hamas als `Politische Partei` schönredet, der zeigt, dass er jedes Maß an Menschlichkeit verloren hat.“

Die Stadtverordneten des Frankfurter Kulturausschusses werteten das Maß an verlorener Menschlichkeit offensichtlich anders; Butler konnte ihren Preis behalten. Auch dies zeigt den Verlust an Empathie. Wie die Herren und Frauen Kuratoren den Mitbürgern der Stadt, und konkret den jüdischen Einwohnern, erklären wollen, weshalb sie Butlers judenfeindliche Äußerungen ignorieren und die Professorin trotzdem als preiswürdig erachten, kann ich mir nur schwer vorstellen.

Ein ganz anderes Beispiel für diese deprimierende Empathielosigkeit beschreibt der schon erwähnte Philipp Peymann Engel. Er ist Sohn eines deutschen Vaters und einer persisch-jüdischen Mutter, ein Kind des Ruhrpotts und nicht nur Chefredakteur der Jüdischen Allgemeinen, der auflagenstärksten Wochenzeitung in Deutschland. Manchen ist er auch bekannt durch sein lesenswertestes Buch „Deutsche Lebenslügen. Der Antisemitismus wieder und immer noch“, manchen durch die Verleihung des Ricarda-Huch-Preises im September. Am Beginn seines Buches schildert er den Tag nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober, d.h. er beschreibt, wie seine Familie auf dieses Schreckensereignis reagierte: „…blieben meine Kinder wie so viele andere jüdische Kinder auch – zu Hause und besuchten nicht ihre jüdische Kita. Bei allem Mut und aller Entschlossenheit, uns nicht von einem judenfeindlichen Mob tyrannisieren lassen zu wollen (er bezieht sich auf die zahlreichen Übergriffe im Alltag) – an diesem Tag siegte die Angst.“ Auch er hätte sich (mehr) Empathie gewünscht und stellt sich die Frage, was denn wäre, wenn Rechtsextreme zur Gewalt gegen Juden und zur Vernichtung Israels aufrufen würden. Wie würde die Öffentlichkeit, wie würden die Medien reagieren?

„Free Palestine, from the river to the sea”, “Yalla Intifada”, “Zionisten sind Faschisten” – Wären dies auch lediglich Meinungsäußerungen, wenn es aus der Ecke der Neonazis käme?

Noch ein Beispiel „Wie die Juden Opfer der deutschen Nazis waren, so sind die Araber nunmehr Opfer der Israelis.“

Hoppla, beim Lesen gerät man beinahe ins Stolpern, hätte man doch beinahe gelesen: „der israelischen Nazis“. Aber dies sind glücklicherweise nur die Spitzfindigkeiten potenzieller Experten für Textexegese. Wichtiger ist: Die Äußerung stammt aus dem Jahr 1981, zu lesen war dies im Spiegel und getätigt wurde sie vom Chef des Hauses, Rudolf Augstein. Möglicherweise hatte Augstein zuvor „Orientalismus“ von Edward Said gelesen, einem der wichtigsten Wegbereiter des postkolonialen Antisemitismus, der mit dieser Ansicht Bekanntheit erlangte. Jedenfalls ist er ein schönes Beispiel für einen Feuilleton-Antisemitismus für die gebildete linksorientierte Mitte, für eine Berichterstattung, die mit toxischer Rhetorik versucht, Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen.

Man muss die Berichterstattung bei uns hier und heute kritisch sehen, ohne zu ignorieren, dass sie in weiten Teilen auch um eine korrekte Darstellung bemüht ist. Problematisch sind vielmehr bestimmte Eigentümlichkeiten: Der Judenhass von „Rechts“ wird zwar verurteilt, über den Antisemitismus von „Links“ dagegen wird berichtet.

Äquidistanz wird als Maßstab für korrekte Berichterstattung gesehen. Es handelt sich dabei darum, den gleichen ideologischen Abstand zu allen politischen Akteuren zu wahren. Doch mit Recht weist Peymann Engel darauf hin, dass es „zwischen dem demokratischen Staat Israel und der Terrororganisation Hamas … keine Äquidistanz geben“ darf. Ob gewollt oder unbeabsichtigt, nur schwerlich entkommen die Medien hierzulande den Strategen der Hamas. Mit jedem Tag, der uns die Bilder der Opfer in Gaza zeigt, treten die Bilder des 7. Oktober in den Hintergrund. Dies ist sicher mit ein Grund für die Empathiesteuerung, die den Akteu ren der Hamas in die Hände spielt.

Nach einem Jahr

Wo stehen wir heute, was hat sich verändert? Und in welche Richtung zielen die Veränderungen? Eine eher zufällige, nicht geordnete Auflistung von Ereignissen, die sich täglich ergänzen ließe, verschafft einen ersten Eindruck.

# In Brüssel wird ein Fußballländerspiel mit Israel abgesagt. Angeblich sind es Sicherheitsbedenken, die zur Folge haben, dass das Spiel nicht in der Hauptstadt, und auch in keiner anderen belgischen Stadt (Lüttich, Antwerpen) ausgetragen werden kann (darf).

# Der außenpolitische Sprecher von Bundeskanzler Scholz erklärt auf die Frage nach deutschen Rüstungsexporten für Israel: zuerst müsse Israel noch Dokumente vorlegen, um zu belegen, dass die Waffen „nicht zur Durchführung von Völkermord“ verwendet würden. Nach Angaben der FAZ, ist die Ausfuhr von Rüstungsgütern nach Israel, im Wert von 203 Millionen auf 1 Million Euro zurückgegangen Etwas verwirrend dabei ist die Erklärung eines Regierungssprechers, wonach es keinen Lieferstopp für deutsche Militärgüter nach Israel gebe. Möglicherweise ist da etwas von der „deutschen Staatsräson“ mit reingerutscht.

# Die schweizerische SP (Sozialdemokratische Partei) muss Parteiaustritte jüdischer Mitglieder vermelden. Der Grund, der Partei den Rücken zu kehren: Auch in der SP werde durch postkoloniale Narrative das Existenzrecht Israels zunehmend in Frage gestellt.

# Marvel Comics, einer der größten Comicverlage mit Sitz in den USA reagiert auf eine BDS-Kritik: In einer Verfilmung wird eine Agentin des Mossad, also eine jüdische Figur, zu einer Russin gemacht. – Putin hat noch nicht darauf reagiert.

# „Wahlen in Frankreich: Die antisemitische Linke ist zurück“ – so titelt die Süddeutsche Zeitung, denn bei so manchem geht in Frankreich nach dem Erstarken des Linken Bündnisses um Mélenchon und seine LFI (Unbeugsames Frankreich) die Angst um, dass die Judenfeindlichkeit noch weiter zunehmen könnte. Nach der Wahl äußerten mehrere hundert Intellektuelle ihre Sorgen über die zukünftige Ausrichtung der LFI Darin heißt es. „Wir sind angewidert von der Trivialisierung des Antisemitismus und fordern eine Brandmauer gegen die Neue Volksfront, eine Koalition, die unserer Meinung nach die größte Bedrohung für die französischen Juden und im weiteren Sinne für Frankreich darstellt.“ Serge Klarsfeld (für die Jüngeren: ein Historiker, der den Holocaust überlebte und der mit seiner Frau Beate dafür sorgte, dass nach 1945 zahllose Nazis vor Gericht gestellt werden konnten) erklärte vor den Wahlen, er würde eher rechts wählen als das Linke Bündnis, für Klarsfeld mit Sicherheit ein bitterer Einschnitt, eine niederdrückende persönliche Zeitenwende.

# In London soll die Eröffnung einer neuen Buslinie ins Leben gerufen werden. Der Bürgermeister Sadiq Khan erhofft sich einen besseren Schutz der Juden vor antisemitischen Übergriffen.

# Der PFA, Palästinensische Fußballverband (ja, den gibt es), fordert die FIFA auf, Israel wegen des Gazakrieges von allen internationalen Spielen auszuschließen. Die Reaktion der FIFA: Sie werde das Ansinnen des Verbandes im Oktober prüfen. Was die FIFA betrifft, gab diese ja schon häufig in Bezug auf politische Kontexte ein armseliges Bild ab. Zu ihrem neuen Partner, dem Fußballverband Palästinas, noch eine Ergänzung: Jibril Jajoub, der Chef des Verbandes, in Personalunion mit dem Palästinensischen Olympischen Komitee, erklärte schon früher: „Jegliche Aktivität, die auf eine Normalisierung der Beziehung zum zionistischen Feind auf dem Gebiet des Sports zielt, ist ein Verbrechen gegen die Menschheit“ (Mena Watch). Dies sind jetzt die neuen Verhandlungspartner der FIFA, um über Israel/Israelischen Fußballverband zu befinden.

# Für Frankreich sitzt inzwischen Rima Hassan, Mitglied der LFI (Partei Melenchons) ungeachtet ihrer antisemitischen Positionen im EU-Parlament. „Rima Hassan verkörpert den Hass und ist das Sprachrohr der Hamas, wodurch sie das wahre Gesicht des Extremismus zeigt“, meint zumindest Hassen Chalghoumi, ein Imam aus einer Pariser Vorstadt.

# Noch immer prüft die FIFA den Antrag des palästinensischen Fußball-Verbandes zum Ausschluss Israels.

# Volker Beck, Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, hält an der TU Berlin einen Vortrag zum Thema „Jüdische Feiertage“. Möglich ist dies nur durch Polizeischutz (ca. 60 Beamte), der die Angriffe propalästinensischer Aktivisten stoppt.

# Europaweit sitzen mehr und mehr Juden auf gepackten Koffern.

# Bisan Owda, Aktivistin der als terroristisch eingestuften „Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP)“, ist in den USA für eine Emmy-Auszeichnung nominiert worden. Owda, die bei der PFLP des Öfteren in militärischer Uniform auftaucht und als Unterstützerin des terroristischen Kampfes gilt, soll also einen Emmy, immerhin in den USA der renommierteste Fernsehpreis, erhalten.

# Der spanische Ministerpräsident Sanchez kündigt an: „Noch in diesem Jahr werden wir das erste bilaterale Gipfeltreffen zwischen Spanien und Palästina abhalten.“ Beinahe ist man versucht zu sagen, da hat sich das Massaker für die Hamas doch schon gelohnt.

# Der Jude von heute versucht nicht aufzufallen, sein Jüdischsein zu verbergen (keine Kippa tragen etc.). Nur vorsorglich, denn es gibt ja keinen zwang. Der nächste Schritt wäre wohl, die jüdische Identität zu verleugnen.

Und die Welt dreht sich weiter.

In Salzburg heißt es jetzt: „Putzt nicht bei Juden“. Die jüdische Gemeinde der Stadt suchte nach einer Reinigungsfirma für ihre Synagoge. Der Geschäftsführer der angefragten Firma reagierte wie folgt: „Wir möchten jedoch klarstellen, dass wir unter keinen Umständen ein Objekt von einem Terrorstaat, der Kinder und Zivilisten ermordet, unterstützen … werden.“

Wie hört das auf, wie wird das weitergehen?

Die Auflistung ist nur ein kleiner Ausschnitt und ließe sich Tag für Tag fortsetzen.

September 2024

Die Situation für deutsche, für europäische Juden hat sich ganz offensichtlich verschlechtert. In den entstandenen Angsträumen haben sich die Gefühle der Unsicherheit weiter verstärkt. Sei es in den Schulen, in denen Mobbing gegen jüdische Schüler schon weit vor dem 7. Oktober zum Alltag gehörte und betulichst unter der Decke gehalten wurde. Meist sehen sich die Gemobten (auch wenn dies unabhängig davon ist, ob es sich um jüdische oder nichtjüdische Kinder und Jugendliche handelt) gezwungen, sich eine andere Schule zu suchen. Verstärkt haben sich die Bedrohungsszenarien sicher an den Universitäten und in immer mehr Arealen der Innenstädte.

Unbehagen macht sich in allen Lebenslagen breit. Das Jüdischsein in Deutschland und in Europa findet zunehmend unter erschwerten Bedingungen statt. Wenn Juden ihre Kinder immer häufiger auf Privatschulen schicken, wenn das Tragen von Kippa oder Davidstern ungewollt zur Mutprobe wird, wenn Juden sich ihre jüdischen Zeitungen in Umschlägen zuschicken lassen, dann müssen uns die Ohren wehtun, ob all der gebetsmühlenartig heruntergespulten Phrasen. „Nie wieder“, schalts` von jeder Tribüne und man möchte heulen in Anbetracht der Heuchelei, Naivität und Niedertracht, die sich dahinter versteckt. Und von einem israelischen Studenten ist zu hören, er traue sich nicht mehr in der Öffentlichkeit, sei es an der Hochschule oder auf der Straße in Berlin Hebräisch zu sprechen.

Alon Meyer, der Präsident des jüdischen Sportverbandes Makkabi Deutschland spricht von „einer absoluten Niederlage unserer Gesellschaft, wenn Juden sich zurückziehen müssen, weil es im Nahen Osten eskaliert.“

Besorgniserregend ist es für Juden in Europa auch, dass die politische Lage sich zu ihrem Nachteil verändert. Die (links)sozialistischen Regierungen Spaniens und Frankreichs wurden schon genannt. Dazu kommt der britische Labour-Chef Jeremy Corbyn. Melénchon bedauert Corbyns Niederlage bei den letzten britischen Unterhauswahlen und hat den Schuldigen für Corbyns Niederlage auch schon entdeckt. Für den Franzosen ist der Misserfolg Corbyns als Resultat der Agitation des Oberrabiners von England und verschiedener EinflussNetzwerke des (israelischen) Likud zu sehen. Zwei Brüder im Geiste, und leider einflussreiche Akteure der politischen Elite, verfallen in antisemitische Verschwörungstheorien, die man vor kurzem noch im Lager der Linken nicht vermutet hätte. Doch Corbyn sieht seine Israelkritik „antirassistisch, antikolonialistisch und antiimperialistisch“. Mit anderen Worten, es handelt sich für ihn, auch wenn das nicht alle im britischen Politikbetrieb so sehen, um eine Art Antisemitismus der Guten. Mit Imperialismus und Kolonialismus in Nahost war doch was? Gut, das ist jetzt sehr lange her, zum Teil ja über 100 Jahre (s.o.). Ja, Corbyn täte gut daran, all dies in seine historisch-politischen „Befunde“ miteinzuschließen.

Bedauerlich und deprimierend bleibt vor allem, dass die europäischen Juden sich heute am meisten Sorgen machen müssen, wenn sozialistische Parteien die Regierung stellen. Angst machen muss dies, wenn die neuen Positionen innerhalb weiter Teile der linken Eliten alltagstauglich werden. Wenn in deren Gefolge die neuen frames in der Gesellschaft hoffähig werden – es handelt sich ja um den Antisemitismus der Guten. Aber ein Antisemitismus ohne Springerstiefel bleibt immer noch Antisemitismus.

Wer als Jude Schutz sucht, kann sich auf große Teile der Linken nicht mehr verlassen: weder auf Seiten der „Nie-Wieder Politiker“ noch bei denen, die ihnen, nach Betrachtung des Opferrankings, die Solidarität entzogen haben.

Im Gegenteil: Die schon konstatierte Empathielosigkeit ist das Geschwisterchen der Brutalität, die die Auseinandersetzung befeuert. Man stellt dies in Deutschland und in anderen europäischen Ländern nicht nur bei der Analyse des Konflikts in Gaza fest.

Doch antiisraelische und antijüdische Aktionen haben eine neue Qualität, vielleicht sollte man besser sagen, ein neues Maß an Entwürdigung, erreicht.

Beispiele finden sich leider beliebig viele. In Italien hat die „Neue Kommunistische Partei Italiens“ (NKPI) ein neues Feindbild entdeckt. Und um die Feinde effizient bekämpfen zu können, hat sie eine Schwarze Liste in Umlauf gebracht, mit der sie leichter „Zionistische Organisationen und Agenten in Italien“ ausfindig machen möchte. Zum Kreis der Anrüchigen zählen Unternehmer, Politiker, Intellektuelle; auch Journalisten und schließlich, Mitglieder der Jüdischen Gemeinde. Vorbild ist eine BDS-Gruppe in den USA, die schon im Sommer 2022 mit einer derartigen Liste für Furore gesorgt hat. Man findet die Liste im Netz und sie findet offensichtlich Anklang. Ein Nutzer fordert eine „Aufräumaktion, (um die) zionistischen und ukrainischen Untertanen“ (sic) zu eliminieren. Von der NKPI ist zu hören, dies sei „der Kampf gegen zionistische Organisationen und Agenten, die in Italien operieren, und es ist ein Kampf sowohl der Unterstützung des Widerstandes des palästinensischen Volkes als auch zur Befreiung unseres Landes von italienischen und ausländischen imperialistischen Gruppen.“ (Als ob Ruth Fischer auf Besuch gewesen wäre.) Die Übergänge von Komintern-Worthülsen zu Nazisprech sind fließend. Aber wenigstens brauchen die in den Listen Inskribierten keinen gelben Stern zu tragen. „Das Vergangene“ sagt William Faulkner „ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen.“

Aus Deutschland ein weiteres Beispiel, genauer gesagt aus Berlin: Die Universität der Künste am 13. November 23. In der Eingangshalle präsentieren circa 100 Studenten eine Art Show, der Zusammenhangverbietet es, von einem happening zu sprechen. Sie hatten alle ihre Handinnenflächen rot bemalt. Dies zeugt jetzt nicht von ausgefeiter Kreativität, doch das war auch nicht beabsichtigt. Auf die Symbolik kam es an. Angeblich, so die offizielle Erklärung der Mitwirkenden, symbolisieren die roten Hände das Blut, das an den Händen der Politiker klebt, die die Waffenlieferungen nach Israel zu verantworten haben. Die taz verweist darauf, dass die Symbolik in einen ganz anderen Kontext gehört und schreibt: „Im Oktober 2000 ging das Bild eines palästinensischen Mörders um die Welt, dokumentiert von einem italienischen TV-Team. Der Mann hatte in einer Polizeistation in Ramallah als Teil eines Lynchmobs zwei israelische Reservisten ermordet. Nach der Tat zeigte er der Menge vor der Wache stolz seine blutverschmierten Hände.“ Wer es genauer wissen will: Den Reservisten wurden die Augen ausgestochen, innere Organe herausgerissen …

Geschichtslos, gedankenlos, gefühllos – Claudius Seidl, Publizist und Journalist bei der FAZ, meinte kürzlich, anlässlich der Beschäftigung mit der propalästinensischen Bewegung, er wünsche sich, „dass es nur Dummheit und nicht Bosheit“ sei.

Amsterdam, ein gutes halbes Jahr später, hier ist es wieder eine Rote-Hände-Aktion, die für Aufsehen sorgt: Eine oder die Skulptur, die an die Ermordung von Anne Frank erinnern soll, wurde schon das zweite Mal mit Farbe beschmiert: der Sockel mit „Free Gaza“ beschriftet, die Hände der Skulptur rot angemalt. Die Statue steht vor dem Haus, in dem sich die Familie versteckte, bis sie deportiert und ins Konzentrationslager gebracht wurde.

Tief eingetaucht zwischen die Sumpfblüten der Identitätspolitik ist Empathie nur noch möglich, wenn der Opferstatus passt. Dass das Abschlachten und Massakrieren jüdischer Zivilisten von dieser Empathie ausgeschlossen ist, zeigt die moralischen Defizite, die sich bei gleichzeitiger überheblicher Rechthaberei und einem desaströsen Nichtwissen zu einer unheimlichen und bedrohlichen Melange entwickeln. Juden werden wieder als imperialistische Repräsentanten und Stellvertreter der westlichen Welt zu Sündenböcken gemacht. Sie sind, aus der identitären Perspektive, betroffen von einer fortlaufenden Abwertung ihres Status`. Denn sie können für sich keinen Opferstatus geltend machen, da sie, angeblich, an der Spitze der postkolonialen Unterdücker im Nahen Osten stehen. Im Gegenteil, die jüdische Identität wird zu einer „verdorbenen Identität“, wie es der amerikanische Soziologe Erving Goffmann bezeichnet.

Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist eine Rezension in der WOZ aus dem Februar 2022, die sich mit „Und die Juden?“, einem Text des Schriftstellers David Baddiel beschäftigt. Die zentrale These lautet: „Jew`s Don`t Count”, “Juden zählen nicht“. Baddiel führt dies darauf zurück, dass Juden in unserer Wahrnehmung, in der wir uns als Personen sehen, die natürlich jede Form von Diskriminierung strikt zurückweisen, dennoch im Täter-Opfer-Raster auf der Seite der Täter abgeheftet werden und folglich auch „nicht als diskriminierte Minderheit wahrgenommen werden – weshalb antijüdischer Rassismus oft unerkannt bleibt.“ Seit dem 7. Oktober muss man wohl sagen, unter den Tisch gekehrt wird. Erhellend sind Baddiels Einschätzungen vor allem, da er Antisemitismus im Zusammenhang mit Rassismus untersucht. Ein Beispiel gleich zu Beginn des Textes verdeutlicht diesen Zusammenhang: Die US-Schauspielerin Whoopi Goldberg (einigen noch bekannt aus dem Film ´Die Farbe Lila`), vertrat in einer Talkshow die Ansicht, der Holocaust könne nicht als rassistisches Verbrechen bezeichnet werden, weil er „von Weissen an Weissen“ begangen worden sei. Offensichtlich war der Schauspielerin nicht bekannt, dass sich die Nazis als Arier sahen und ihnen die Juden als minderwertige Rasse galten.

Mag Goldberg historisch nicht so bewandert sein, so ist ihr doch vorzuwerfen, wie sie das Opferranking auf ziemlich widerliche Weise aufgreift und auf der antisemitischen Klaviatur mitspielt.

Mit ihrem Nichtwissen steht sie nicht allein. Die FAZ präsentierte vor kurzer Zeit die Ergebnisse einer kleinen, sicher nicht repräsentativen Umfrage, es waren circa 250 Studenten beteiligt, die der Politikwissenschaftler Ron Hassner an der Berkeley Universität gemacht hat (ein Schelm, der dabei an Judith Butler denkt) und die im Wall Street Journal veröffentlicht wurde. Ausgangspunkt war die Frage, ob die Studenten die Parole „From the river to the sea, Palestine will be free” kennen würden, was 85% bejahten. Auf die Frage, welcher Fluss und welches Meer gemeint seien, antworteten einige, bei dem Fluss handle es sich um den Nil. Andere tippten auf den Euphrat. Das Meer sei die Karibik. Oder der Atlantik. Es steht zu fürchten, dass bei manchen der deutschen Palästinaaktivisten die Antworten ähnlich faktenfrei ausfallen würden. Auch in Deutschland sind viele „bewaffnet mit Unwissenheit“ (Danilo Kis) und tragen ihre intellektuelle Armut mit einer fassungslos machenden Arroganz und Selbstgerechtigkeit vor sich her. Die Weigerung, Fakten und Sachverhalte erst einmal zur Kenntnis zu nehmen und dann einzuordnen, führt zu fatalen Selbsttäuschungen. Und da, als eine Folge des neuen postkolonialen Denkens das Ringen um das bessere Argument nicht mehr relevant ist, fällt die Schlichtheit des Denkens dann gar nicht mehr auf – no brain, no pain.

Nicht außer Acht lassen sollte man, dass ganz andere Dinge auch eine Rolle spielen können. Eine Art Radical Chic dient gerade bei Jüngeren der Selbstfindung. Häufig zeigt sich, je radikaler ich auftrete, desto besser ist mein standing in meiner Gruppe. Dies ist dann manchmal auch ein Grund dafür, dass gar nicht beabsichtigt ist, andere durch bessere Argumente zu überzeugen. Es spielt ja jetzt die Tribalisierung eine viel wichtigere Rolle, was bedeutet, dass die Herkunft entscheidend ist für das „Wir“ und die Abgrenzung gegenüber anderen.

Mit meiner Empörung bekunde ich, dass ich mich als Teil einer bestimmten Gruppe verstehe (Tribalismus), natürlich gehöre ich zu den Guten. Gleichzeitig steigere ich mein Selbstwertgefühl und mein Ansehen in der Gruppe. „Moralisches Prestige“ nennt es der Philosoph und Publizist Philipp Hübl in seinem neuesten Buch „Moralspektakel“. Für ihn handelt es sich um „Personen…, die dadurch Bewunderung erhalten wollen, dass sie von ihrem moralischen Status, speziell ihren Tugenden künden, oder, wenn ihnen damit nicht genug Anerkennung zuteil wird, sich künstlich über andere zu empören, um sie moralisch zu dominieren.“ Und: Das Problem ist nicht die Solidarität mit der palästinensischen Zivilgesellschaft und natürlich kann man sich darüber, dass die Vorgehensweise der israelischen Armee immer wieder schnell als „Kollateralschaden“ abgetan wird, empören.

Aber was man nicht kann, ist sie mit dem in genozidaler Absicht begangenen Massaker vom 7. Oktober gleichsetzen. Und für alle, die nach diesem Tag durch ihr schrilles Schweigen aufgefallen sind, gilt: Ihre Betroffenheit und Empörung ist doppelt unredlich.

Unredlich, aber folgenlos. Man geht mit Überzeugungen hausieren, für die man sich nicht rechtfertigen muss. Der amerikanische Psychologe Robert Henderson nennt das „luxury beliefs“„Leute vertreten Meinungen als Statussymbol, und zwar am liebsten radikale Meinungen, vor deren Konsequenzen sie selber tendenziell bestens geschützt sind.“ Man könnte achselzuckend über die Strategien des ein oder anderen im Zuge seiner Selbstfindung hinwegsehen, wenn es hier nicht um existenziell Wichtiges ginge. Der Angriff der Hamas geschah mit der Intention des Vernichtungsantisemitismus, wie das auch schon in der Gründungscharta von 1988 festwurde. „From the river to the sea” ertönt es auf den Straßen. Und auch schon vor hundert Jahren (1928) war es Hassan al Banna, der Gründer der Muslimbruderschaft, der forderte, „die Juden ins Meer zu werfen“. Doch das Nachplappern (und sei es in gedankenloser Naivität) derartiger Slogans, die von ihren ursprünglichen Initiatoren als Aufruf zu Völkermord verstanden wurden, macht zornig.

Wenn die propalästinensischen Aktivisten, die sich häufig für die intellektuelle – und moralische – Speerspitze dieser Gesellschaft halten, sich selbstgefällig über (historische) Fakten hinwegsetzen, diese sind ja eh als Ergebnisse westlicher Meinungsproduzenten abzulehnen, und stattdessen mit einer besorgniserregenden antisemitischen Wucht die politische Auseinandersetzung an sich reißt und das Jüdischsein in Deutschland und in Europa zunehmend erschwert, und auch bedroht, dann kann man mit Fug und Recht von einer Zeitenwende sprechen.

7. Oktober 2024

Ein Jahr liegt das Massaker zurück, manche haben es aus den Augen verloren, für manche ist es sozusagen verjährt. Doch noch immer wird der antisemitische Furor auf unseren Straßen nicht geringer: Die Bandbreite reicht von den Kulturschaffenden, über Intellektuelle wie Slavoj Zizek, bis in die Universitätsbetriebe, die auf diese Weise auch die Hochschulen als Orte einer akademischen, wissenschaftlichen Diskussionskultur ruinieren.

Aus der Zeitenwende wird inzwischen ein Zeitraum, in dem sich nichts findet, das Anlass zum Optimismus geben könnte. Man fühlt sich erinnert an Walter Benjamin, der seine Geschichtsphilosophie in einem kurzen, berühmtgewordenen Text gebündelt hat. „Es gibt ein Bild von Paul Klee, das ´Angelus Novus` heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind weit aufgerissen, sein Mund steht offen, und seine Flügel sind aufgespannt.“ Und der Engel blickt auf all die Katastrophen der Geschichte, die ihn entsetzen, er möchte helfen, Abhilfe schaffen. – „Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Der Sturm zieht ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken gekehrt hat, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm“.

Benjamin präsentiert uns eine desillusionierende Geschichtsvorstellung. Das Chaos und die Verwüstungen, die dem Geschichtsverlauf inhärent sind, lassen sich nicht aufhalten. Im Gegenteil, der Engel der Geschichte kann seiner Aufgabe als Retter in der Welt nicht nachkommen: vielmehr ist er selbst es, der das Chaos, das den Weltenlauf der Geschichte prägt, mit verursacht. Mehr als pessimistisch ist die Vorstellung Benjamins, mit der er schon damals in der Linken, vom Hegelianer bis zum Marxisten, aneckte.

Unabhängig davon, dass sich in Benjamins Text auch ein positiver Firnis verbirgt, ist mir der „Engel der Geschichte“ bei der Auseinandersetzung mit dem hier vorgestellten Thema immer wieder durch den Kopf gegangen. Das bis jetzt Unvorstellbare, wie das Aufgeben der Singularität der Shoah, die Empathieverweigerung für die Juden bei uns und in Europa, die Hasseruptionen, mit denen Juden inzwischen zu kämpfen haben. Wie die Grenzen für das (noch) Tolerierbare von Woche zu Woche verschoben werden, ist beängstigend. Und zu irgendwelchem Optimismus besteht kein Anlass.

Und das Schlimmste ist: Im Schoße alternativer Fakten und losgelöst von weißem Herrschaftswissen ziehen zu viele, die sich im Verbund der progressiv Guten wähnen, mit und beteiligen sich an diesem unsäg lichen Treiben. So selbstbewusst wie Walt Disneys „Fähnlein Fieselschweif“ stehen die Kämpfer für eine gerechte Weltordnung auf ihren Kampfplätzen – und treten all die moralischen Standards, für die sie eigentlich eintreten wollen, wissentlich oder unwissentlich, willentlich oder ; auf jeden Fall mit einem kompromisslosen Furor in den Gully. „Ich bin nicht wütend,“ sagt die Schriftstellerin und Publizistin Nele Pollatschek in dem Essay-Sammelband „Nach dem 7. Oktober“. „Ich bin nicht einmal enttäuscht. Ich frage mich nur, wie wir so dumm sein konnten. Wie man denken konnte, es ginge der progressiven Linken um Menschenrechte, um universelle Werte.“ Ihr Text ist auch deswegen so erhellend, weil er unter anderem deutlich macht, was im Kreis der propalästinensischen Bewegung offenbar niemand bewusst ist, dass man sich Glaubwürdigkeit und Integrität hart erkämpfen muss – und beides ist hier zu Bruch gegangen. Auch hierzu nochmal Pollatschek: „Wer sich am 7. Oktober nicht für Menschenrechte interessierte, nicht für Zivilisten, nicht für Frauen und Kinder, der kann (auch) jetzt nicht behaupten, es ginge ihm um Menschenrechte, Zivilisten, Frauen und Kinder. Dem geht es um etwas anderes und wir werden ihm nie wieder glauben. Wir werden ihnen nie wieder glauben.“ Und wie der „Engel der Geschichte“ schauen wir auf die Ruinen und die Trümmerlandschaften, die uns heute von unseren ehemaligen Mitstreitern der unterschiedlichsten progressiven/linken Milieus hinterlassen werden.

Und ganz ähnlich wie Nele Pollatschek geht es Eva Illouz, sie zeigt sich desillusioniert angesichts des empathielosen Verhaltens der Linken. Sie spricht von „Leuten aus meinem politischen Lager“, die das schlimmste Ereignis für die Juden seit der Shoah mit einem Achselzucken zur Kenntnis nehmen, wenn überhaupt.“ „Wir Linken kämpften einst für gemeinsame, universale Werte. Geblieben sind Leidenskonkurrenz und paranoide Selbstbespiegelung.“ Wo ist sie hin, die scharfsinnige Analyse, die Bewusstseinsbildung, die zugegebenermaßen ein mühsamer Prozess ist, und die jetzt wichtiger denn je wäre. „Wie überzeugend klingt alles“, sagt Elias Canetti, „wenn man wenig weiß.“ Leider gilt das nur für einen selbst, möchte man hinzufügen.

Die Frage, inwiefern wir heute einen neuen Antisemitismus haben, lässt sich auch daran überprüfen, inwieweit bei uns heute das Jüdischsein gelebt werden kann. Wenn heute an manchen Universitäten der Betrieb, zum Schutz von Studenten und Lehrenden nur noch on-line stattfindet, wenn Angst und Verunsicherung zum täglichen Begleiter werden, wenn Juden Loyalität vermissen oder fehlenden Rückhalt beklagen – in einem Land, in dem die Kröten zu ihrem Schutz noch persönlich über die Straße getragen werden und das Rehkitz …. Wenn man böse wäre, könnte man vielleicht denken – das mit dem Opferstatus ist so eine Sache.

Und noch einmal zurück zu Eva Illouz, die wie Pollatschek die Brücken zu den „Genossen“ von früher abreißt. „Die Juden sehen sich in Israel und in der Welt schamlos im Stich gelassen“, sagt sie und zieht ihre Konsequenz: „Wir Linken? Nicht mehr.“

7. Oktober:

Ein Jahr ist es jetzt her. Und auf die Reaktionen in Wort, Bild und Tat darf man gespannt sein.

Eine kleine Literaturauswahl

Amery Jean: Der neue Antisemitismus

Martini T., Bittermann K. (Hg.): Nach dem 7. Oktober

Mendel Meron: Über Israel reden

Peymann Engel, Philipp: Deutsche Lebenslügen

Vukadinovic, Vojn Sasa (Hg.): Siebter Oktober Dreiundzwanzig

Mena watch.com - ein Nahost-Thinktank aus Österreich 


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Andreas Meyer / 7.10.2024

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