Warum „Zeitenwende“?

Peter Conzelmann

Über das Entstehen unserer Gruppe, die mit Beiträgen zu verschiedenen gesellschafts- und allgemein politischen Themen in Form eines Blogs an die Öffentlichkeit tritt, informiert das Editorial von Hilde Schneider. Was hat uns bewogen, unserem Projekt den Namen „Zeitenwende“ zu geben? Die Sichtweisen in unserer Gruppe und die Themen, für die sich die einzelnen Mitglieder interessieren, überschneiden sich, sind aber nicht deckungsgleich. Im Folgenden einige Gedanken zum Begriff „Zeitenwende“ und seinem aktuellen Gebrauch.

„Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents.“

Mit diesem Satz begann die inzwischen viel zitierte Rede, die Kanzler Olaf Scholz wenige Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vor dem zu einer Sondersitzung zusammengekommenen Deutschen Bundestag hielt. Die Rede markiert deutlich die mit dieser militärischen Aggression entstandene politische Lage in Europa, die nicht anders als Bedrohung wahrgenommen wurde, und adressiert die politischen Handlungsfelder, auf denen nun markante Änderungen zu erfolgen haben, so vor allem in der Außen- und der Verteidigungspolitik.

Der Begriff „Zeitenwende“ erhebt indessen keinen Anspruch auf Exklusivität in Bezug auf die Ereignisse in der Ukraine und deren Folgen. Er ist eine vielfach benutzte und probate rhetorische Metapher in vielerlei Kontexten, auch skurrilen. „Zeitenwende“ nannten sich – weiß Wikipedia – auch das Organ der „Partei Mensch Umwelt Tierschutz“, außerdem ein esoterischer Verlag. „Zeitenwende“ prangt auf vielen Buchtiteln, so bei Büchern von Rüdiger von Fritsch (über den Ukraine-Krieg), Carmen Korn (eine Familien-Saga), Jürgen Müller (über IT und wie sie die Welt verändert), Michel Friedman und Harald Welzer (über Angriffe auf Demokratie und Menschenwürde), Eugen Drewermann (über die Bergpredigt), bis hin zu Michaela und Anton Stygner (über den Erzengel Michael und Gebete zur Reinigung von Covidenergien). Das ist nur ein Ausschnitt aus dem aktuellen, bei Amazon gelisteten Angebot.

Ein weiteres, auf einen politischen Kontext bezogenes Beispiel: In meinem Regal steht das Buch „Zeitenwende“ von Frank Rösch. Der Autor beschreibt in diesem 2020 erschienenen und sehr anregenden Werk die Ereignisse des Jahres „1979 – Als die Welt von heute begann“, so der Untertitel.

1979?

Der Verlag C.H.Beck erläutert wie folgt:

„Im Jahr 1979 häuften sich weltweit Krisen, Revolutionen und euphorische Aufbrüche. Die iranische Revolution, die Aufnahme der Boat People, die Öffnung Chinas, Margaret Thatchers neoliberale Wende, der Atomunfall in Harrisburg oder die Gründung der GRÜNEN brachten vom Islamismus bis zum Umweltschutz neue Themen auf die weltpolitische Agenda.“

Das ist sicherlich ein frappierender Befund. Dennoch kann man nicht davon ausgehen, dass gerade das Jahr 1979 in den Sinn kommt, wenn von „Zeitenwende“ die Rede ist. Andere Jahre drängen sich da eher auf. In den zurückliegenden Jahrzehnten hat es einige gewichtige historische Ereignisse gegeben, die von den Zeitgenossinnen und -genossen als Zeitenwende wahrgenommen wurden. Genannt seinen zum Beispiel der Bau der Berliner Mauer (1961), die Niederschlagung des Prager Frühlings (1968), der Fall der Berliner Mauer (1989), der Untergang der Sowjetunion und des Warschauer Pakts (1991), die Anschläge vom 11. September (2001).

Aber eignen sich solche historischen Ereignisse oder Vorgänge für das Signum „Zeitenwende“, wenn man darunter verstehen will, dass mit einer solchen ein neues Zeitalter, eine neue Epoche beginnt, was die engere und strengere Bedeutung des Begriffs wäre? Besteht nicht Gefahr, dass sich der Begriff „Zeitenwende“ durch den vielfachen Gebrauch abnutzt und nicht nur zu einer rhetorischen Metapher, sondern zu einer beliebigen Phrase wird? Müsste man nicht, zumindest ansatzweise, belegen können, dass sich eine behauptete Zeitenwende tatsächlich auf etwas Grundsätzliches, Epochales bezieht?

Olaf Scholz formulierte es in seiner genannten Rede so:

„Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“

Für einen Repräsentanten der Sozialdemokratie, welche seit den 1960er Jahren die Entspannungspolitik auf die internationale Agenda gesetzt und zum Erfolg geführt hat, sind das gewichtige Worte, bedeuten sie doch nicht weniger dezidiert ein Ende dieser Politik.

Es ist insbesondere der im Februar 2022 begonnene Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, der uns motiviert hat, den Begriff „Zeitenwende“ für unser Projekt zu wählen. Der Krieg in Nah-Ost, ausgelöst terroristischen Anschlag der Hamas im Oktober 2023 und fortgesetzt mit dem massiven israelischen Gegenschlag sowie aktuell ausgeweitet durch die Kämpfe im Libanon und den Raketenbeschuss auf Israel durch den Iran und die jemenitischen Huthi, bestärkten uns in der Sicht, dass sich im Bezug auf die uns vertraute Weltordnung Entscheidendes geändert hat und weiter ändert. Verstärkt wurde diese Wahrnehmung nach außen durch die innenpolitischen Umbrüche in Deutschland mit einem Erstarken populistischer Kräfte mit der AfD auf der äußersten Rechten und einer teilweisen Neupositionierung der Linken durch das BSW.

Wie unter anderem die „Frankfurter Rundschau“ am 14. Oktober 2024 meldete, hat

„(d)er russische Präsident Wladimir Putin (…) auf einem Gipfeltreffen in der turkmenischen Hauptstadt Aschgabat eine ‚neue Weltordnung‘ gefordert, die sich von der Dominanz der USA abwendet. Dies ist einem vom Kreml veröffentlichten Video von Putins Rede zu entnehmen. Putin sprach laut Medienberichten darin von der Entstehung neuer Zentren des wirtschaftlichen Wachstums und politischen Einflusses. Diese Entwicklung sei ‚unumkehrbar‘.“

Dies klingt wie eine berechtigte Forderung, denn wer sollte sich eine unipolare Welt, beherrscht von lediglich einem Hegemon, wünschen? Zumal die USA selbst innenpolitisch vor einer Zerreißprobe mit ungewissem Ausgang stehen und mit einer zweiten Präsidentschaft Donald Trumps neue globale Unsicherheiten, ja Disruptionen zu erwarten wären. Scheint da eine multipolare Weltordnung nicht erstrebenswert, könnten dadurch nicht Perspektiven zugunsten bisher marginalisierter Regionen der Erde verschoben werden?

Doch Putins Aussage ist eine massive Täuschung. Sein Ziel ist nicht, eine neue multipolare Weltordnung zum Wohle aller zu schaffen, sondern ein Kampf gegen elementare zivilisatorische Werte, die er seit Jahren in seinem von ihm beherrschten Land in den Staub tritt und die eigenen Bürgerinnen und Bürger, die sich für sie einsetzen, drangsaliert oder zu Tode bringt: Gewaltenteilung, Rechtsstaat, Menschenrechte, hierbei vor allem Meinungs- und Pressefreiheit und Toleranz gegenüber Minderheiten.

Putin hat sein Land, zum Vorteil der ihn umgebenden Kaste von Oligarchen und korrupten Apparatschiks, in einen nach innen und außen aggressiven Zustand versetzt, der nicht nur in der Ukraine zu einem heißen Krieg führte, sondern auch weitere Nachbarn wie Moldau, Polen, die baltischen Länder, Finnland, Schweden und Norwegen unmittelbar militärisch bedroht. Durch verdeckte Einflussnahme und mediale Infiltration bedrängt Russland zudem weitere Länder, zu denen, wie die deutschen Geheimdienste aktuell melden, in immer stärkerer Weise auch Deutschland gehört. Das Stichwort vom „hybriden Krieg“ gegen unser und andere Länder des Westens macht die Runde.

Wie Russland die Ukraine, so bekämpft der Iran nicht nur den Staat Israel, sondern explizit auch stellvertretend die Werte, die er mit diesem aus seiner Sicht westlichen Pfahl im Fleisch der islamischen Welt verbunden sieht. Hinter Israel stehe, so die Anschauung des Teheraner Regimes, der „große Satan“, die USA und im Grunde der ganze Westen. Und so wie Russland seinen Einfluss mindestens im mittleren und westlichen Europa neu definieren will, so sucht der Iran eine Vormachtstellung in der islamischen Welt.

Die Zielrichtungen Russlands und des Iran sind also dieselben, und so verwundert es nicht, dass es zwischen den beiden Staaten nicht nur ideologische, sondern auch ganz konkrete Waffenhilfe gibt, auch wenn Letzteres, wie üblich, massiv bestritten wird.

Nach dem Untergang zweier sich gegenseitig belauernden, aber auch in einer eigentümlich friedenssichernden Balance sich haltenden Machtblöcke, die infolge des Zweiten Weltkriegs entstanden, und dem irrigen Triumph-Gebaren der liberalen Demokratien des Westens, die die Welt am „Ende der Geschichte“ – so der Titel eines erfolg- und einflussreichen Buches des US-amerikanischen Politologen Francis Fukuyama aus dem Jahr 1992 – wähnte, sind wir aktuell Zeugen einer Entwicklung, die tatsächlich nicht nur auf eine fundamentale Änderung der Weltordnung im Sinne einer Verschiebung geopolitischer Kräfte hinauslaufen könnte. Vielmehr stehen die oben genannten zivilisatorischen Werte unter massivem Druck, nicht nur in weiten Teilen der Welt, sondern auch bei uns im Inneren.

Der Traum von einer allseitigen Öffnung, hin zu einer friedlichen globalen Entwicklung, scheint ausgeträumt. Zumindest müssen die in unseren persönlichen Erfahrungen liegenden Vorbedingungen unserer Vorstellungen und Erwartungen einer solchen Entwicklung überprüft werden.

Der Soziologe Armin Nassehi beschreibt es in seinem jüngst erschienen Buch „Kritik der großen Geste“ (München, C.H. Beck, 2024) so:

„… Vergangenheiten (müssen) neu geschrieben werden, weil die Zukünfte unsicher werden. Das heißt wohl Zeitenwende. Unmittelbar mit dem Überfall auf die Ukraine hat es begonnen, die eigene Vergangenheit anders zu erzählen.“

Peter Conzelmann

 

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