Der demokratische Reflex des US-Judentums
Geradezu omnipräsent sind wir im Nachgang durch die Medien mit soziologischen Wähleranalysen zur Trump-Wahl überschüttet worden. Antworten sollten auf die Frage geliefert werden: Welche Gruppen haben Kamala Harris die Unterstützung versagt, die noch vier Jahren Joe Biden zugekommen ist? Latino- und afroamerikanische Männer, Stimmberechtigte arabischer Herkunft, Jungmänner, angezogen von den toxischen Macho-Sprüchen Trumps, gaben in wesentlich grösserer Zahl als zuvor ihr Plazet dem republikanischen Kandidaten.
Wenig Beachtung dagegen schenkten die Beobachterinnen und Wahlforscher den jüdisch Stimmenden. 79 Prozent der jüdischen Wählenden votierten klar für Harris. Während andere die Sorgen von Harris für Rechtsstaat, Demokratie und stabile Institutionen in den Wind schlugen, elektrisierte gerade diese Botschaft die jüdische Bevölkerung. Oder um genau zu sein: den liberalen Mainstream. Denn für die Ultraorthodoxen, aber selbst den Modern-Orthodoxen, war bereits vor den Wahlen in allen Umfragen klar: Sie reihten sich zusammen mit den messianisch gestimmten Evangelikalen loyal in die Gefolgschaft für Trump ein.
Trump hat gehalten, was er den Orthodoxen und – vom Wähleranteil her weit wichtiger – den Evangelikalen 2016 bei seiner ersten Wahl versprochen hat: Er erkannte Jerusalem offiziell als Israels Hauptstadt an, verlegte die US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem. Auch die Golanhöhen, die 1967 im Sechs-Tage-Krieg erobert wurden, beendete die erste Trump-Administration den völkerrechtlichen Schwebezustand und betrachtete es als ein zu Israel zugehöriges Gebiet. Unzimperlich setzte sich sein damaliger Aussenminister Mike Pompeo über alle UN-Resolutionen hinweg und erklärte, dass die israelischen Siedlungen im Westjordanland nicht gegen das Völkerrecht verstiessen. Und natürlich das Abraham-Abkommen mit verschiedenen arabischen Staaten, das Trump als «Jahrhundertabkommen» feierte.
Immunisiert gegen autoritäre Tendenzen
Für den wesentlich bedeutenderen Teil der nur 2,4 Prozent zählenden jüdischen Minderheit in den USA spielt das zukünftige Verhältnis von Israel und den USA sicher auch eine Rolle. Aber noch bedeutender ist für sie, in einer von Rechtsstaatlichkeit geprägten USA zu leben. Sie haben es nicht vergessen, dass Trump seine Abwahl nicht anerkannte, dass er den Mob zum Sturm am 6. Januar 2021 aufs Kapitol aufstachelte, dass er in Georgia die Wahlbehörde zu gross angelegten Fälschungen überreden wollte und heute davon spricht, am ersten Tag seiner Präsidentschaft Diktator sein zu wollen. Für sie wecken solche autoritären Tiraden gegen die Demokratie einen jüdischen Reflex, der verbunden ist mit der leidvollen Gewaltgeschichte des Judentums seit zwei Jahrtausenden. Es ist beinahe so, als würden hier Millionen von Wähler einen Schwur auf die Maxime von Hannah Arendt ablegen, «auf das Recht, Rechte zu haben». Rechte übrigens, die nicht durch die Mehrheit des souveränen Volkes gegenüber der Minderheit durchgesetzt werden können.
Für unsere deutsche und westeuropäische Debatte um Antisemitismus und Nahost ist der Blick auf die Jüdinnen und Juden in den USA nicht unerheblich. Denn das US-Judentum offenbart mit seiner voll entwickelten Meinungspalette von links bis rechts, dass Jüdinnen und Juden nicht einfach mit Israel gleichgesetzt werden dürfen. Es zeigt uns, dass wie bei allen ethnischen und religiösen Gemeinschaften das Verschmelzen von Volksgruppen zu einem schwarz-weissgemalten Kollektivbild unangebracht ist. Was wohl das Wichtigste ist und hier wiederhole ich mich noch einmal: Das klare Bekenntnis der grossen Mehrheit des jüdischen Wählerblocks zum Rechtsstaat rührt von Grundüberzeugungen her, die von der Erfahrung der Jahrhunderten langen Verfolgungsgeschichte herrühren.