Nukleare Erpressung
Reaktionen auf den russischen Angriffskrieg in Europa im 21. Jahrhundert
Viele haben klare Positionen, schrecken aber aufgrund der nuklearen Erpressung vor klaren Konsequenzen zurück. Worauf eine konsequente militärische Unterstützung der Ukraine basiert, zeigt dieser Blogbeitrag auf
Die Wiederkehr der Barbarei durch eine Grossmacht mitten in Europa
Wir leben (spätestens) seit dem 24. Februar 2022 endgültig in einem neuen, alten Zeitalter: Seit dem Ende des Zweiten. Weltkrieges hat in Europa keine grössere Militärmacht es mehr gewagt bzw. aktiv davon geträumt, europäische Nachbarländer mit dem Ziel des gross angelegten Landraubs anzugreifen. Die Europäer sind nach 1945 mit einer Vorstellung internationalen Rechts und Frieden aufgewachsen, die zumindest einen derart fundamentalen, realen heissen Angriffskrieg eines neuen russischen Hitler ausschloss (zwar waren die, insbesondere von Milosevic verursachten, Kriege im ehemaligen Jugoslawien in den 90er Jahren ein „lokales“ Warnsignal, aber in diesem Fall hat das, viel zu späte, Eingreifen der NATO-Staaten diesen heissen „lokalen“ Krieg auf dem Balkan beendet. Serbien war nicht Russland).
„That’s history“
Der Fokus dieser Analyse besteht nun aber nicht in einer weiteren Erzählung darüber, wie es zu dem russischen Angriffskrieg mitten in Europa kommen konnte. Das wissen wir alle längst: Putins chauvinistisch-imperiale Weltsicht (bzw. je nach Interpretations-Geschmack: und/oder Angst vor dem Verlust seiner Mafiaherrschaft durch sich drohend durchsetzende Demokratie) liegt offen zu Tage – er trägt die alleinige hundertprozentige Verantwortung dafür, ohne Abstriche.
Die Propaganda der Form „Russland wird bedroht“ oder „Ab 5:45 wird jetzt zurückgeschossen“ ist Unsinn, die russische Bevölkerung wird in keiner Weise durch den Westen „bedroht“. Antiamerikanismus bzw. Anti-NATO-Ressentiments („was war mit Irak etc.!?“) sind gleichfalls zu ignorieren. Inwieweit sich „Putin geändert hatte“ oder „schon immer so war“ ist ebenfalls hier uninteressant.
Last but not least ist mittlerweile völlig klar: Die reale Dynamik von Putins Drohungen und vorherigen militärischen Aggressionen (u.a. militärische Annexion der Krim sowie Beginn des Krieges in der Ostukraine ab 2014) wurden auf der „alliierten Antwort-Seite“ im Kern nicht entscheidend ernst genommen, und zwar genauso wenig, wie damals Adolf Hitlers frühe militärische Übergriffe (also vor dem Startschuss des Zweiten Weltkriegs, u.a. Einmarsch der Nazis im Rheinland, Anschluss Österreichs, Annexion des Sudetenlandes) in ihrer unerbittlichen Logik nicht zeitnah energisch beantwortet wurden.
Aktuelle Statistik des Grauens und besondere (nukleare) Natur der Kräfteverhältnisse
Stand Ende 2024 gibt es durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine, mitten in Europa, bereits Hunderttausende von Toten und Millionen Flüchtlinge zu beklagen. Die Ukraine verteidigt sich militärisch intelligent und so gut, wie es die zögerlichen alliierten westlichen Waffen- und Munitionsunterstützungen zulassen.
Das Kreml-Regime, das bereits hinreichende weitere Angriffsdrohungen auch über die Ukraine hinaus ausgesprochen hat, führt eine militärische Grossmacht mit einem sehr grossen nuklearen Erpressungs- und Bedrohungspotential. Gegen Letzteres bilden die USA das natürliche nukleare Gegengewicht. Entsprechend ergibt sich auch keine sofortige „erzwungene militärische Kapitulation“ der zivilisierten Welt. Ein Stück weit unklar ist zu diesem Zeitpunkt die Bedeutung der kommenden Trump-Regentschaft in den USA.
Wie ist also nun „aus zivilisatorischer Sicht“ in dieser Lage zu antworten? Wie sollen “die Alliierten“ reagieren? Was bedeutet das für die darauf bezogene Einstellung des einzelnen Lesers, der Leserin bzw. mich selbst hier?
Der Fokus dieses Textes ist auf die prinzipiellen Reaktionsmöglichkeiten gerichtet, die sich aus den „aktuellen dynamischen militärischen Umständen“, dem Rahmen internationalen Rechts und Menschenrechtskonventionen, und zugleich aus der eigenen notwendigen Bereitschaft zum Risiko (bzw. dessen strategische Auswahl) so oder so ergeben:
Der Startpunkt: Wut, Wille zur Hilfe
„Wir“ hoffen und fühlen mit der Ukraine, wir sind wütend, wir rufen und schreiben „Zeitenwende!“ und wollen Frieden und Gerechtigkeit. Wir wollen „helfen“ (und zwar auch uns selbst…). Die erste Reaktion der zivilisierten Welt war entsprechend klar und richtig : „Russia out of Ukraine!“ (vgl. UN-Resolution A/RES/ES-11/1 der Generalversammlung vom 2. März 2022).
Dies gilt in vielfacher Hinsicht: Nackte Barbarei gegen ein friedliches Land ist grundlegend empörend, ähnlich wie die Terroranschläge des 11. Septembers 2001 oder des 7. Oktobers 2023. Unsere Empathie mit dem Elend der Ukrainerinnen und Ukrainer ist echt. Das für sich allein genommen schreit schon nach vorbehaltloser militärischer Unterstützung der Ukraine. Gut und Böse sind klar verteilt – zu diesem Punkt kein Dilemma weit und breit. Wir sehen und fühlen, dass die nukleare Supermacht Russland sich vor unseren Augen in den grössten Terrorstaat der Welt des 21. Jahrhunderts verwandelt hat, der auch uns bedroht – und seine über die Ukraine hinausgehenden Eroberungs-Ambitionen schon öffentlich artikuliert hat. Diese Kombination aus nuklearer Supermacht und Terrorstaat ist DIE Bedrohung des Weltfriedens, und zwar vor unserer Haustür.
Die doppelte Angst im Extremen: Eskalation zum Atomkrieg versus „Durchwinken nach Lissabon“
Damit verbunden erleben wir sich widersprechende Ängste. Zum einen wissen wir, dass Appeasement gemäss Chamberlain letztlich zur Ausweitung des russischen Aggressionskrieges führt. Wir müssen also militärisch aktiv sein, um dies zu verhindern. Zum anderen haben wir selbst auch Existenzangst und den Wunsch nach einem „guten, freien und unbedrohten Leben“ und fürchten die (vielleicht sogar nukleare?) Eskalation. Es ist nicht klar, inwieweit wir mental bereit sind, uns „militärisch die Hände schmutzig zu machen“. Wir sind „zögerlich“…
Die Reaktionen der zivilisierten Welt sind entsprechend ambivalent: Auf der einen Seite gilt endlich wieder „Containment!“. Der „Kalte Krieg“ ist nun gar kein Bedrohungsszenario, sondern vielmehr spätestens seit 2022 das wiederherzustellende minimale Nahziel nach dem zivilisatorischen Dammbruch durch die russische Mafia. Von „Putin als Partner“ ist (endlich!) keine Rede mehr.
Auf der anderen Seite zuckt der Westen zurück in Bezug auf die nötige Entschlossenheit, die dafür nun militärisch seit 2022 nötig wäre. Der zivilisatorische Dammbruch beinhaltet eben auch die unverblümte Drohung des russischen Mafiastaates, mit nuklearer Erpressung seinen Angriffskrieg „quasi abzusichern“, um nicht zu sagen: auszuweiten.
Was sind unsere eigenen „roten Linien“ gegen die nukleare Erpressung? Das ist zunächst einmal eine individuelle Einstellung – Niemand nimmt sie uns ab.
Aus all diesen widersprüchlichen Perspektiven und Gefühlslagen unterstützen „wir“ deshalb die Ukraine militärisch „nur mit halber Kraft“, aus Angst vor dem Atomkrieg. Wahlweise machen „wir“ das entweder bewusst mit halben Konzepten oder stecken alternativ populistisch oder (wahlweise naiv oder zynisch) defätistisch zum Teil einfach den Kopf in den Sand in der Hoffnung, dass es so schlimm schon nicht kommen wird.
Letztlich steht Im Kern für jeden Menschen in dieser Situation die grösstmögliche Zumutung im Raum, nämlich die Frage: Inwieweit sind wir nuklear erpressbar?. Ab welchem Punkt antizipiert man also das eigene Leben in einem drohenden totalitären weltweiten Terrorstaat in ständiger Angst vor Erniedrigung, Überwachung, Willkür, Zerstörung, Gefängnis & Folter und höhnischer Bösartigkeit als derart unerträglich und sinnlos, dass man sogar das „Ende mit Schrecken“ in Kauf nimmt?!
Genau an dieser Stelle muss jeder für sich selbst vor dem Spiegel Farbe bekennen. Ein Radikalpazifist wird Putin gewähren lassen und hätte auch Adolf Hitler die Weltherrschaft überlassen. Er hat, grob gesagt, keine „rote Linie“. Das kurzfristige Überleben, und zwar egal unter welchen Umständen, hat in seiner Sicht absolute Priorität. Entsprechend winkt er Putin nach Lissabon durch.
Ich selbst teile diese Einstellung nicht, kann sie aber angesichts der Monstrosität der (beiden!) möglichen extremen Alternativen verstehen.
Was ist also „meine Grenze“ gegen die nukleare Erpressung?
Für mich sind die Errungenschaften des internationalen Rechts und der Menschenrechte, die insbesondere den brutalen Landraub und damit drohenden Genozid sowie lang andauernden Terror auch militärisch zurückweisen, grundlegend.
Die Nukleardrohung ist dabei mit klassischer Kalter Kriegslogik zu beantworten: Die Reaktion auf einen russischen Atomschlag ist der Atomschlag. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari regt angesichts der aktuellen Unsicherheit über den möglichen atomaren Schutz durch die USA unter Trump an, dass vielleicht sogar Deutschland selbst auf eigene nukleare Abschreckungskraft hinwirken muss (vgl. Interview im Tagesanzeiger 12.11.2024). Um an dieser Stelle nicht missverstanden zu werden: Prinzipiell ist und bleibt nukleare Abrüstung das mittelfristige erstrebenswerte Ziel! Das geht aber aktuell nicht mit dem Kriegsverbrecher Putin, sondern bedingt einen Gorbatschow 2.0 Diese Flexibilität des Denkens ist uns leider ein wenig abhanden gekommen.
Das heisst konkret: Es gibt keinerlei Grund, zu glauben, dass wir heute zwar ängstlich sind, aber urplötzlich mutig werden, wenn morgen der NATO-Bündnisfall z.B. in Polen oder im Baltikum eintritt. Der Bündnisfall der Verteidigung des internationalen Rechts und des Friedens in Europa ist JETZT! Die Ukraine wird maximal, ohne Zögern und ohne jegliche Einschränkung mit Waffen und Munition kontinuierlich intensiv unterstützt. Selbstverständlich sind dabei militärische Angriffe auf das militärische Aggressionspotential Russlands gegen die Ukraine auch auf russischem Gebiet gemäss internationalem Recht legitime (um nicht zu sagen: notwendige) Angriffsziele.
Das russische Regime muss verstehen, dass in der Ukraine militärisch und mit Terror nichts zu gewinnen ist und es vielmehr durch Fortsetzung des Angriffskrieges Gefahr läuft, selbst beschleunigt seine Machtbasis auch im Inneren zu verlieren.
Die Message an den Kreml ist klar: Es gilt das internationale Recht verbunden mit nuklearer Abschreckung, ohne Wenn und Aber.
Das ist die „rote Linie“, bei deren brutaler Überschreitung via Landraub dieses Regime diskussionslos mit energischer militärischer Gegenwehr der zivilisierten Welt zu rechnen hat.
Ralf Jürgens
15.12.2024, 21:30
Michael, was für ein starkes Plädoyer! Wert mit vielen Unterschriften an Marc Rutte zu gehen! Ralf
Auf Ralf Jürgens antworten Abbrechen
Christina Herbert-Fischer
17.12.2024, 17:39
Ich bin geneigt zuzustimmen. Einerseits wünsche ich mir das Ende des Krieges und denke man muss auch verhandeln. Andererseits im Anbetracht der russischen Verbrechen und der Haltung Putins, glaube ich nicht an eine Chance auf diesem Weg zur Zeit etwas zu erreichen. Die Zögerlichkeit unserer Regierung hilft leider nicht, sie zieht alles eher in die Länge mit ungewissem Ausgang. Dass Russland nicht so stark ist, wie manche fürchten, sieht man an den Ereignissen in Syrien. Wann, wenn nicht jetzt, macht es Sinn Taurus und andere Waffensysteme zu liefern? Wollen wir damit warten bis die russische Armee und ihre Söldnern vor Lemberg stehen?
Auf Christina Herbert-Fischer antworten Abbrechen